Illusion, Verführung und Simulation.

Florian Rötzer im Gespräch mit Jean Baudrillard, April 95


FR: Verstehen Sie sich überhaupt als Medientheoretiker?

JB: Ich weiß nicht recht, ob ich ein Medientheoretiker bin. Der Ursprung meiner Theorie bestand in einer Analyse der Welt der Objekte, und wie diese Welt der Alltagsgegenstände sich verändert hat. Das war eine Umschreibung der Revolution in die Revolution der trivialen Dinge. Natürlich war es unumgänglich, dann auch auf die Medien zu stoßen. Kann es überhaupt eine Theorie der Medien geben? Ich weiß nicht, da die Medien gerade eine Welt der Unentscheidbarkeit bilden. Durch sie verflüchtigt sich jede Wahrheit, löst sich jede Spielregel auf. Damit aber verflüchtigt sich auch die Theorie. Wir können deswegen keinen Omega-Standpunkt einnehmen, von dem aus sich eine Wahrheit über die Medien sagen ließe. Aus meinen Überlegungen heraus bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es gleichzeitig zwei einander völlig entgegengesetzte Hypothesen gibt. Auf der einen Seite vernichten die Medien die Möglichkeit der Sinngebung, wodurch alles verändert wird. Das ist die übliche, auch von mir formulierte negative Kritik der Medien als Mittel der Verfremdung und Entfremdung. Auf der anderen Seite könnte durch die Medien vielleicht ein ironisches Spiel der Welt entstehen, wozu ich heute eher neige. Nicht die politische Macht oder irgendein Subjekt manipuliert durch die Medien die Menschen, sondern sie produzieren eine derart unübersichtliche Welt, durch die alles im physikalischen Sinne einen kritischen Zustand erreicht, woran gerade die Macht und die großen Subjekte der Geschichte zugrunde gehen. Man kann zwischen diesen beiden Hypothesen keine Entscheidung treffen, weil sie beide wahr sind. Und deswegen sind sie gleichzeitig auch weder wahr noch falsch, was gerade die allgemeine Wirkung der Medien ist.

FR: Nach der Beschäftigung mit den Veränderungen in der alltäglichen Welt der Dinge haben Sie sich der daraus resultierenden Theorie der Simulation zugewandt, die auf dem Fundament einer Analyse der Medien und des digitalen Codes entstanden ist. Sie haben die Welt der Simulation und des Digitalen als Zerstörung der symbolischen Ordnung dargestellt. Darin impliziert war noch eine Trauer über den Verlust dieser Ordnung, die für Sie die vergangenen Gesellschaften regiert hatte. Wäre für Sie die symbolische Ordnung noch immer ein Maßstab zur Kritik der Simulation?

JB: Zu dieser Zeit kreiste auch mein Denken um die Theorie des verlorenen Objektes. Das war die Grundlage. Dazu kam eine gewisse intellektuelle Sehnsucht nach der verlorenen symbolischen Ordnung oder auch den primitiven Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund ließ sich die Simulation als eine Gegenwelt, als eine verfälschte Welt der Zeichen abheben. Die Simulation kennt die Reversibilität der Zeichen, beispielsweise die von Leben und Tod, nicht mehr, sie vernichtet diese Grundenergie der Zeichen, die Illusion, wie ich heute sagen würde. Die Welt des symbolisches Austausches war die Welt der Illusion im Sinne der vitalen Illusion bei Nietzsche. Diese Gesellschaften oder unsere früheren Gesellschaften konnten mit dieser Illusion noch umgehen. Für uns ist diese radikale Illusion zu schwer zu ertragen, wir können mit ihr nichts mehr anfangen. Daher müssen wir eine andere Strategie entwickeln, die die Illusion mit den Zeichen der Simulation bekämpft. Wir ersetzen die radikale Welt der Illusion durch die relative Welt der Simulation. Diese Strategie hat sich mit den Medien radikalisiert. Für mich ist die Welt der Simulation aber keine Welt der Entfremdung mehr. Es handelt sich dabei eher um eine vielleicht fatale Strategie, aus der Welt des Scheins und der Erscheinung in die Welt der Simulation zu flüchten, in eine künstliche Welt, die möglicherweise virtuell perfekt ist. Heute nimmt die Simulation die Form der Virtualität an, durch die wir versuchen, eine perfekte, mit sich selbst identische Welt zu erfinden. Das ist natürlich das perfekte Verbrechen, das die Spuren hinter sich auszulöschen sucht. Mit der Simulation verschwindet nicht nur die Illusion, sondern auch die Wirklichkeit. Das Verschwinden der Wirklichkeit ist nicht so ausschlaggebend, wohl aber der Verlust der Illusion, obgleich das Wort Verlust immer so nostalgisch klingt. Es ist einfach so. Wir verfolgen eine andere Strategie, die uns vielleicht schützt. Wir verschwinden einfach in die Welt der Simulation, anstatt in der Welt der Illusion zu erscheinen. Mit den neuen Technologien haben wir vielleicht eine Möglichkeit gefunden, sehr listig zu verschwinden. Vielleicht ist das die kollektive, aber unbewußte Absicht der menschlichen Gattung. Die Theorie der Simulation, die das Ergebnis einer Analyse unserer Kultur der Neuzeit gewesen ist, konstatierte eine Mutation unserer westlichen Kultur. Ich habe nicht vom Simulakrum in allen Gesellschaften und geschichtlichen Epochen gesprochen. Für mich ist die Dimension dieser Theorie aber jetzt umfassender geworden. Es handelt sich um einen Wettkampf zwischen Illusion und Simulation. Das meine ich jetzt natürlich nicht metaphysisch oder kosmologisch. Aber vielleicht ist eben die Simulation gar kein so radikaler Gegensatz zur Illusion, sondern nur ein großer Umweg, um dann wieder auf die Illusion zu stoßen. Möglicherweise begegnen sich die Extreme wieder. Mit den avanciertesten Technologien finden wir vielleicht wieder den radikalen Zustand der Illusion. Das ist natürlich unentscheidbar. Wenn ich früher von der symbolischen Ordnung und der Simulation gesprochen habe, so würde ich heute nicht mehr vom Symbolischen sprechen, weil der Begriff so "müde" geworden ist. Ich mag auch nicht mehr von der Simulation sprechen. Ich bin ihrer überdrüssig geworden, ohne deswegen auf den Begriff der Wirklichkeit zurückkehren zu wollen. Deswegen finde ich heute den Begriff der Illusion attraktiver.

FR: Sie haben den Übergang in unsere Welt ja durch viele Konzepte zu beschreiben versucht. Ich habe das, ganz einfach gesagt, immer so verstanden, daß die frühere Welt von Gegensätzen wie gut/böse, Illusion/Realität etc. regiert war, während die Simulation oder Virtualität diese Gegensatzpaare, zwischen denen viele Übergänge möglich waren und die miteinander in einem dramatischen Bezug standen, aufheben, wodurch ein schillernder Zustand der Indifferenz eintritt. Sie haben zwar jetzt immer der Simulation die Illusion entgegengesetzt, aber es scheint mir doch so zu sein, daß Sie in Ihren Schriften oft auch als immanenten Gegensatz zur Simulation das Ereignis sahen, das nicht simuliert oder integriert werden kann, das als Erwartung oder auch als Katastrophe aus der geschlossenen, indifferenten Welt der Simulation ausbricht oder in sie einbricht, das etwas Singuläres ist und das auch mit der Verführung verbunden ist.

JB: Das Ereignis ist für mich mit der Verführung und der Illusion verknüpft. Durch die Verführung gewinnt die Welt wieder einen Pathos der Distanz. Der allgemeinen Vermischung der Kategorien stellt sich die Distanz der Dualität, der Alterität, der Verführung entgegen. Daraus entstehen nicht mehr die alten Gegensätze von gut und böse oder von wahr und falsch. Solange gut und böse entgegengesetzt sind, befindet man sich in der Welt des Guten. Wenn sie sich nicht mehr trennen lassen, dann ist dies die Welt des Bösen, weil diese Verwechslung das Prinzip des Bösen ist. Das Ergebnis ist die Indifferenz. Die Verführung stellt eine intensive Dualität her, mit der sich das große Spiel wieder über jede Simulation, aber auch über die alten Gegensätze hinaus abspielen kann, wie das Nietzsche bereits vorhergesehen hatte. Heute allerdings sind wir in der Welt der Simulation nicht über den Gegensatz von gut und böse hinausgekommen, wir haben ihn vielmehr unterschritten. Mit diesem Zustand kann die Herausforderung der Verführung wieder entstehen, durch die die Illusion wieder zum Zuge kommen kann, in der die Dinge und wir selbst nicht mehr identisch sind, in der die Dinge als Erscheinungen und nicht als ontologische Wesen da sind. Ich meine damit keine subjektive, sondern eine objektive Illusion. Auch in der physischen Welt haben wir nie mit den realen Dingen in der radikalen Präsenz zu tun, sondern die Dinge sind immer in Distanz zu uns. In dieser Distanz ist das Spiel der Verführung möglich. Daran glaube ich nicht als Ideologie, sondern als Tatsache. Wir sehen das auch in der physischen Welt. Die Sterne oder Massen ziehen einander an, weil sie sich in einer Distanz zueinander befinden und nicht kollabieren.

FR: Wie würde denn die Verführung und damit die Illusion für uns auftauchen? Wie können wir sie bemerken? Sie sagten, daß der Verführung nicht die subjektive Illusion entspricht, die von den Menschen erzeugt wird. Geht sie dann von den Objekten aus? Überfällt sie die Menschen von außen? Oder müssen die Menschen die Welt nur anders wahrnehmen? Können sie in der Welt der Simulation Spuren der Illusion oder der Verführung entdecken? Können sie sie erfinden oder sind es gewissermaßen die Katastrophen, die zeigen, daß die Perfektion unvollständig ist?

JB: Vielleicht müssen wir dem System selbst mehr Vertrauen schenken. Wir haben versucht, das System der Simulation zu destabilisieren. Das ist uns nicht gelungen. Wir können es nicht auf subversive Weise destabilisieren. Aber hoffentlich wird das System durch seine eigene Logik in den Zustand des extremen Phänomens kommen. Dann entsteht vielleicht ein Nichts, eine virtuelle Leere, in der sich wieder etwas ereignen kann. Das Ereignis kann nur im Leeren stattfinden. Deswegen müssen wir die Dinge vorantreiben, sie dem Leeren entgegentreiben. Diese Arbeit, die zugleich eine Trauerarbeit ist, leistet das System selbst.

FR: An welchen Zeichen könnten wir diese immanente Destabilisierung des Systems erkennen?

JB: Wir erleben das jeden Tag in der politischen Welt. Sie hat sich selbst annulliert. Die politische Klasse leistet selbst die Zerstörungsarbeit und verschwindet durch sich selbst. Das Ergebnis ist die Indifferenz, aus der vielleicht bis jetzt noch nichts Entscheidendes entstanden ist. Aber man kann darauf hoffen, daß aus ihr etwas anderes hervorbrechen wird. Die Menschen haben mittlerweile eine transpolitische Einstellung. So wie Marx sagte, daß die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein wird, so würde ich sagen, daß die Destabilisierung des Systems das Werk des Systems selbst sein wird. Das ist ein Effekt der immanenten Trägheit und Schwerkraft des Systems. Wenn sich diese vergrößern, dann wird irgendwann die Schwerkraft zu groß und das System implodiert. Die Bedingung dafür ist die des Nichts unterhalb des Bereichs des Existierenden, unterhalb der Welt der Ursachen und Effekte. Unterhalb der Welt der Dinge und der Kausalität, die ihre eigene Geschichte besitzt, existiert eine Welt des Nichts, des Unentscheidbaren. Das ist die Welt, auf der sich die Illusion gründet. Wir spielen stets in diesen beiden antagonistischen Welten, die nie miteinander verschmelzen werden. Das ist die Grundspaltung der Welt und vielleicht auch der Theorie, weswegen sie nie mit sich identisch sein und sich auf eine einzige Hypothese reduzieren kann.

FR: Die Indifferenz ist eine systemdestabilisierende Vorstufe der Leere, aus der unvorhersehbare Ereignisse wieder auftauchen können. Wo sehen Sie denn gegenwärtig Zeichen dieser Indifferenz?

JB: Die Differenz bricht für mich mit der Simulation zusammen und geht in die Welt der Indifferenz, also in eine Form der Entropie über. Doch die Indifferenz wird zu einer neuen Energiequelle, zu einer neuen Leidenschaft, was natürlich im Gegensatz zu unseren Vorstellungen von Energie steht. Diese Indifferenz ist auch die ursprüngliche Energie der Dinge oder der Welt. Differenz geht mit Simulation einher und nicht mit Alterität. Differenzen suchen sich zu fixieren und immer weiter auszudehnen, bis sie selbstbezüglich werden und im Grunde keine Differenzen mehr sind, sondern Identitäten. Die Differenz stürzt, weil sie ein abgeschlossenes Spiel ist, in sich selbst ein, wodurch eine Nullwelt entsteht, die gerade das Gegenteil zum Nichts der Illusion ist. Es gibt viele Zeichen der Indifferenz. Die vielen Skandale in der politischen Welt würden normalerweise zu einem Zusammenbruch der politischen Macht führen, aber es geschieht nichts, weil die Menschen sich das Schauspiel nur anschauen und sich nicht ernsthaft darum kümmern. Vielleicht wissen sie, daß es die Pflicht und die Berufung der politischen Klasse ist, dieses Schauspiel zum Vergnügen der Masse aufzuführen. Die Menschen sollen sich in unserem System ausdifferenzieren, jeder soll eine persönliche Identität erwerben, durch die sich selbst kontrollieren. Es scheint mir so, daß die Menschen sich dieser künstlichen Differenzierung mehr und mehr verweigern und sich in beliebige Singularitäten verwandeln, die ganz banal und trivial sein können. Sie akzeptieren, irgendwer zu sein oder zu werden, wodurch die Macht nicht mehr als Gegenspieler vorgestellt wird. Das ist kein bewußter, sondern ein transpolitischer Widerstand. Die Menschen lernen die Kunst des Verschwindens. Man will, daß sie erscheinen, daß sie irgendwer sind, aber sie können wie die Kinder sehr gut durch dieses Netz hindurchschlüpfen. Die Kinder sind darin sehr geschickt. Sie sind in einem "Double-bind" gefangen, das sie immer zum Opfer eines verzerrten Spiels macht. Die Kinder entwickeln dagegen die vielleicht fatale Strategie eines "Double-unbind", mit der sie auf jeden Fall zum Sieger werden. Sie können flüchten oder sich verflüchtigen, Ordnung und Gegen-Ordnung gegeneinander auszuspielen. Die Menschen lernen das mehr und mehr in dem Maße, in dem das System sie in Differenzen einzusperren versucht.

FR: Andererseits könnte man sagen, daß nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konfliktes und der kommunistischen Herrschaftsform eine große Suche nach einer neuen Differenzierung eingetreten ist. Fundamentalismen haben sich verstärkt. Der Rückzug auf die Nationalität, auf ethnische Bindungen läßt sich überall beobachten. Man versucht Inseln der Identität zu bilden, deren Erzeugung auch zu blutigen Konflikten führt. Sind das Zeichen der Indifferenz oder nicht gerade umgekehrt Versuche, die Ordnung der Differenz zu retten?

JB : Diese Differenzierungen sind jedenfalls nicht mit den früheren vergleichbar, in denen die Partikularitäten sich im aufkommenden Prozeß der Geschichte entfaltet haben. Jetzt entstehen diese Differenzierungen auf dem Boden der Indifferenz. Die Indifferenz hat sich ereignet. Aus ihr entsteht zwar keine simulierte, aber doch eine neu erfundene Differenzierung von zweiter Hand. Es ist eine synthetische Differenz, die sich auch gewaltsam ausprägen kann. Diese Ereignisse erscheinen als eine Art Gespenst der Geschichte. Sie haben keine Lösung. Wir befinden uns jetzt in einem Rückzug der Geschichte, in einer zurücklaufenden Geschichte, in der die Ereignisse nicht mehr denselben Sinn haben. Das geschieht auf einer anderen Ebene, auf der sich alles zufällig abspielt.

FR: Beschleunigen die gegenwärtigen Prozesse der Differenzierung also eher das Eintreten und die Konsolidierung der Indifferenz?

JB: Ja, das hat alles keine Finalität mehr. Es gibt keine rationale Geschichte und Zukunft mehr. Deswegen sind das alles gespenstische Ereignisse, die undeutbar sind. Es sind reine Effekte einer abwesenden Geschichte. So habe ich auch den Golfkrieg interpretiert. Aus dem Mangel eines wirklichen Ereignisses werden technologische, aber auch ethnische, subjektive, soziale oder sprachliche Prozesse projiziert und abgespielt. Dabei entstehen auch Leidenschaften, aber die reine Gewalt genügt nicht, um Geschichte im Sinne einer modernen Entwicklung zu machen. Doch vielleicht ist die Welt nie modern gewesen. Vielleicht ist die Modernität ein ganz synthetisches Modell. Statt von der Postmoderne zu sprechen, sollte man vielleicht lieber von einer Moderne sprechen, die nicht entstehen kann.

FR: Sie sprechen davon, daß die virtuellen Realitäten, die zu simulierten Räumen werden und in die man mit seinem virtuellen Körper eintreten kann, die Bilder zerstört hätten, daß sie der Endpunkt des gegenwärtigen Ikonoklasmus seien. Bilder oder Szenen sind für Sie hingegen der Illusion zugeordnet. An die virtuelle Realität im Cyberspace werden große Hoffnungen geknüpft. Daraus können, so meinen viele, nicht nur neue soziale Beziehungen einer Tele-Existenz entstehen, sondern auch neue Kunstformen, bei denen man nicht mehr bloß passiver Zuschauer eines Spektakels ist, sondern man zu einem Akteur wird. Ist die Kolonialisierung dieses immateriellen, vernetztes Reiches die endgültige Vernichtung der Illusion und der Verführung?

JB: Durch die Virtualität und Interaktivität wird die Illusion vernichtet. Vielleicht ist es reaktionär, was ich sage. Im Theater ist die szenische Illusion in dem Moment zugrundegegangen, als das Theater versuchte, interaktiv zu werden und das Publikum mit einzubeziehen. Dadurch verschwindet die notwendige Distanz der Szene. Man versucht die Zuschauer als solche zu vernichten. Alles soll eins werden. Das ist ein Grundirrtum, denn damit verschwindet auch die Illusion, die nur bestehen kann, wenn man Zuschauer bleibt und wenn die Distanz aufrechterhalten wird. Das läßt sich nicht nur im Theater beobachten, sondern auch in der Politik und in jeder anderen Aktivität. Damit geht mit der Position des Objektes auch die des Subjektes zugrunde. Die Illusion wird ersetzt durch eine Hyperwirklichkeit, denn wir sind in der Aktivität und der Kommunikation realer. Alles wird verwirklicht. Jedes Zeichen wird wirklich, wenn es vom Sender und Empfänger in der Echtzeit erlebt wird. Das ist Realität und keine Illusion mehr. Daraus entsteht eine neutrale Zirkulation der Zeichen, der jede Dramatik fehlt, in der es keine Dramaturgie des Austausches mehr gibt. In dieser Virtualität, in der alles eins wird und sich alles gleichzeitig abspielt, in der jede Vorstellung und jeder Wunsch sich gleich realisieren kann, gehen die Distanzen verloren und damit können wir von dem Gegenüber nicht mehr verführt werden, weil es kein Gegenüber, keine Kluft mehr gibt. Wir müssen diese Kluft bewahren, aber das ist nicht so gemütlich. Vielleicht ziehen wir es vor, über alle Dinge verfügen zu können. Wir glaubten damals, daß es im Theater ein Fortschritt war, als die Leute vom Living Theatre in den Saal herunterkamen oder als die Zuschauer auf die Szene heraufgeholt wurden. Wir sahen darin eine Befreiung. Vielleicht müssen wir damit sehr vorsichtig umgehen oder darauf verzichten. Wir müssen, glaube ich, verstehen, daß wir, wenn wir den Abstand, die Entfremdung vernichten wollen, auch den vitalen Grund des menschlichen Austausches vernichten. Die virtuellen Welten entstehen aus immer perfekteren Mensch- Maschine-Systemen. Der Mensch wird immer mehr zum integrativen Bestandteil eines biotechnologischen Systems. Die Verschränkung wird immer enger. Gleichzeitig gibt es einen Kult um den fleischlichen Körper; soll er bewahrt, geschützt, perfektioniert werden, wird er überhaupt erst wirklich entdeckt, erscheint er, mitsamt dem Gehirn, als das eigentlich Menschliche. Das ist einfach eine Kompensation der Virtualität. Aber was ist dieser heraufbeschworene Körper? Ist er noch fleischlich? Wir sehen das auch bei Madonna und bei der Sexualität. Was ist die extreme Sexualität? Es werden nur die Zeichen sexualisiert, aber ob der Körper wieder zu einer Sexualität findet, kann man doch bezweifeln. Wir sind alle ein für alle Mal in die Virtualität eingetaucht. Ob wir dies wollen oder nicht, haben wir mit dem Substitut zu tun. Vielleicht ändert sich aber auch die Imagination, so daß wir die Virtualität als wirklich und als konkret erleben. Wir werden zwar immer das innere Gefühl des Lebens und des Erlebens empfinden, aber als simulierte Wesen sind wir gänzlich einer simulierten Welt angepaßt. Das ergibt äußerlich dasselbe Resultat. Doch im Geheimen ist das ganz anders, es führt zu einer ganz anderen Illusion. Wir haben eine überendliche Welt betreten, in der es nur noch virtuelle Effekte gibt und in der kein Ursprung und keine Ursache mehr zu finden ist. Vielleicht begnügen wir uns damit, vielleicht gibt es eine kohärente Scheinwelt, aber es wird in dieser Welt keine Kunst mehr geben, weil Kunst im Grunde auf der ursprünglichen Illusion und nicht auf der virtuellen Scheinwelt beruht.

FR: Sie sprachen ganz am Anfang davon, daß alles möglicherweise auf ein selbstinszeniertes Verschwinden des Menschen hinauslaufen könnte. Wenn man sich die technischen Entwicklungen, angefangen vom Künstlichen Leben bis hin zu intelligenteren, autonomen Robotern oder virtuellen Agenten anschaut, dann könnte man von einer Art Take-over des Menschen durch seine Kreationen sprechen. Die Menschen produzieren ihr Ende, indem sie sich in anderen Körpern und Existenzweisen fortsetzen. Sollte man diesen Trend beschleunigen? Sollte man ihn verhindern? Gibt es überhaupt Eingriffsmöglichkeiten?

JB: Es scheint so, als würde das Menschengeschlecht versuchen, sich zu verewigen. Sie wollen die natürliche Selektion der Evolution beenden, indem sie versuchen, sich künstlich durch solche Substitute zu überleben. Alles wird künstlich und dadurch vielleicht perfekt, eine Welt des Selben und nicht mehr des Anderen. Damit würde alles menschlich, wenn es dann noch sinnvoll wäre, von menschlich zu sprechen. Man könnte aber auch die Hypothese aufstellen, daß die Menschen sich eine künstliche Welt erfinden, um sie an ihre Stelle zu setzen, und sich dann von dieser künstlichen Welt zurückzuziehen, um ihr Leben als Menschen irgendwie und irgendwo wieder aufzunehmen. Der Mensch wird gegenüber dieser von ihm selbst geschaffenen künstlichen Welt indifferent. Er könnte aus ihr heraustreten und zuschauen, was in der künstlichen Ewigkeit geschieht, während er vor ihr geschützt ist und sein eigenes Spiel spielt. Das könnte die große List dieser technischen Evolution sein. Vielleicht hat sie keine Finalität. Wenn sie eine hat, dann wird sie katastrophisch sein. Aber vielleicht ist es gar keine Apokalypse, sondern nur eine kollektive List. Das wäre eine optimistische Lösung, wenn alles nur ein ironisches Spiel ist. Die Indifferenz gegenüber dieser selbsterschaffenen Welt wäre ein Tugend und sogar eine Macht. Wir würden nicht ohnmächtig in die Virtualität übergehen.

FR: Würden wir uns dann wieder als natürliche und endliche Wesen entdecken?

JB: Nein, das glaube ich nicht. Wahrscheinlich sehnen wir uns gar nicht in einen Naturzustand zurück, sondern in die Illusion, wo wir als Verführungswesen existieren. Vielleicht ist das der Urwunsch des menschlichen Geschlechts. Ich habe diese Hypothese nur erfunden, weil ich oft als so pessimistisch oder nihilistisch verstanden werde. Noch einmal zurück zur Indifferenz und zur Verführung. Vielleicht brauchen wir ja die Medien, um uns noch verführen zu können, weil wir es selbst nicht mehr schaffen und die anderen Menschen es auch nicht mehr tun. Deswegen warten wir immer auf das Ereignis verführt zu werden. Aber das Spiel wird von niemandem mehr beherrscht.

FR : Damit würden wir wieder auf die ursprüngliche Leere zurückkommen, wo nichts existiert, wo alles virtuell im Sinne von potentiell da ist, aber es keine Formen und Metamorphosen gibt, durch die es wirklich werden kann. Verführung hat wohl sehr viel auch mit Formen und mit Regeln zu tun, die das Spiel abgrenzen und erkennbare Züge ermöglichen.

JB: Ja, deswegen ist dies auch problematisch. Wir kennen die Spielregeln der Verführung in der Welt der Simulation noch nicht. Wir erleben sie nur negativ, als geheime Spielregel der Indifferenz. Deswegen gibt es aber auch noch eine Chance, die heute nicht anders als durch eine neue Heraufbeschwörung des Negativen auftreten kann. Doch das ist eine Form der Negativität, die anders ist als die vergangenen. Vielleicht muß man sich als Virus, als Terrorist, als molekulares Partikel zurückziehen und ein winziges Nichts schaffen, um so einige geheimnisvolle Prozesse auszulösen, weil die Szene der Umwelt von Informationen gesättigt ist. Man muß einige Löcher der Desinformation oder der Gegeninformation erzeugen. Das Unglück ist heute, daß wir dies nicht mehr als Kollektiv oder als Gruppe oder gar als Avantgarde schaffen können, das geschieht nicht mehr durch einzelne, sondern durch die Masse.

Das Gespräch wurde auf deutsch geführt.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Siemens Kulturstiftung.


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