TPJ: Sie haben in Ihren Büchern immer wieder behauptet, daß wir auf
der Schwelle
zu einer neuen Epoche stehen würden. Sie führen das auf die
neuen Techniken
zurück. Es ist sicher der Computer, der im Zentrum der
gegenwärtigen
Veränderungen steht. Würden Sie denn sagen, daß man Epochen
durch ihre
Techniken charakterisieren kann, weswegen man dann auch sagen
könnte, es
gäbe so etwas oder müßte so etwas geben wie eine Philosophie
des
Computerzeitalters? Flusser: Ich möchte das ein wenig präzisieren. Ich bin einverstanden, wenn man von einer Schwelle spricht, sofern man die Schwelle breit genug ansetzt. Sie hat sich bereits in der Mitte des 19.Jahrhunderts gezeigt, und wir werden sie sicher nicht vor der Mitte des 21.Jahrhunderts überschreiten. Ich bin auch damit einverstanden, daß Sie den Übergang auf den technischen Einfluß zurückführen, allerdings mit der Einschränkung, daß die Technik allein zur Erklärung nicht ausreicht. Die Technik schlägt nämlich auf das Bewußtsein zurück, in dem die Veränderungen größer sind als in der Umwelt. Jetzt aber zur Frage, ob eine Philosophie des Computerzeitalters gefordert ist. Eine Philosophie der neuen Zeit entsteht von selbst. Nicht nur, weil sich die Themen ändern, sondern vor allem, weil sich die Methode des Denkens verändert. Eine der Charakteristiken des Übergangs ist, daß wir uns nicht mehr mit kausalen Erklärungen begnügen können. Wir müssen die Phänomene als Produkte eines Spiels von Zufällen ansehen, wobei die Zufälle statistisch dazu neigen, notwendig zu werden. TPJ: Darf ich kurz unterbrechen. Das ist eine Formulierung, die aus einem wissenschaftlichen Modell hervorgeht. Wenn Sie sagen, daß wir nicht mehr kausal erklären können, heißt das, wir können dies wissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch nicht mehr, oder heißt das, wir können uns auch als Menschen des Alltags nicht mehr so wie in der Tradition verstehen, sondern sind dazu genötigt, uns etwa aus der Perspektive der Wahrscheinlichkeitstheorie zu begreifen? Flusser: Das, was Sie den Menschen im Alltag nennen, oder das, was man den gesunden Menschenverstand genannt hat, ist das wissenschaftliche Niveau vergangener Jahrhunderte. Wir denken im Alltag so, wie man seit der Renaissance bis zur Aufklärung im elitären Denken gedacht hat. Der Umbruch, von dem ich gesprochen habe, ist ein elitärer Umbruch, der nicht so schnell ins Bewußtsein der großen Menge dringen wird. Er tröpfelt in es ein. Das war schon immer so. Wenn ich sage, daß wir dazu gezwungen sind, die Kategorien unseres Denken umzuformen, dann meine ich, daß wir durch die Wissenschaft und die mit ihr zusammenhängende Spekulation dazu gezwungen sind. Ich bin der Überzeugung, daß die Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode für alle absehbare Zukunft das Paradigma des zivilisierten Denkens bleiben werden. Die Methoden verändern sich natürlich, aber als wissenschaftliche Methode bleibt sie das Paradigma für alle Methoden. TPJ: Sie haben aber doch schon mehrmals darauf hingewiesen, daß auch die Wissenschaft sich in einer Umbruchsphase befindet, da sie sich den Künsten nähert. Diesen Umstand haben Sie wiederum anhand des Computers als Paradigma für das Handeln des Menschen erläutert. Mit dem Computer werden mit bedeutungslosen Elementen, den Pixeln oder den Bits, neue Welten entworfen. Das haben Sie ja als die Grundverfassung des menschlichen Seins in der Gegenwart beschrieben. Dann aber wäre es weniger die Wissenschaft, sondern eher der Computer, der das Paradigma für das aktuelle Selbstverständnis des Menschen ist. Flusser: Sie haben vorher etwas gefragt, worauf ich noch nicht geantwortet habe, nämlich ob die Technik maßgeblich für die Geschichte der Menschheit ist. Ich bin damit einverstanden. Ich glaube, man sagt mit Recht ältere oder jüngere Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit und vielleicht jetzt Computerzeit, weil diese technischen Methoden auf das Bewußtsein zurückschlagen. Es gibt ein Bewußtsein der älteren Steinzeit oder eines der Bronzezeit. Das sieht man natürlich nicht auf den ersten Blick. Wenn man an die Bronzezeit denkt, dann denkt man an die homerischen Helden oder an die Helden der verschiedenen Sagen. Aber wenn man darüber nachdenkt, dann kommt man darauf, daß diese schicksalhafte Einstellung des Helden auf die Technik der Herstellung von Bronzewerkzeugen zurückzuführen ist. Ich kann darauf jetzt nicht näher eingehen. Bronze ist im Unterschied zu Stein oder Eisen ein elitäres Material. Es war immer teuer. Also ist die Mentalität der Bronze die Mentalität einer kriegerischen und priesterlichen Elite, während die Eisenzeit mit einer Vulgarisierung und Demokratisierung des Denkens einhergeht, weil es billiger ist, Eisen herzustellen als Bronze. Das sei nur nebenbei gesagt. Sie fragten, ob nicht statt der Wissenschaft der Computer als ein Modell der heranbrechenden Zukunft anzusehen sei. Ich kann das nicht so trennen, weil die Technik angewandte Wissenschaft ist. Sie fragten, ob Kunst und Wissenschaft nicht einander näherrückten. Von dem Wort Kunst war ich nie sehr begeistert. Vielleicht ist die Kunst der Neuzeit von den früheren Künsten nur dadurch verschieden, daß sie nicht wissenschaftlich unterbaut war, daß sie sozusagen eine empirische Technik gewesen ist. Das verändert sich vielleicht jetzt. Vielleicht können wir wieder die Kunst als angewandte Wissenschaft oder die Wissenschaft als eine Theorie der Kunst ansehen. TPJ: Sie gehen also davon aus, daß unser Zeitalter von den angewandten Wissenschaften, also in dem Sinne auch von den Techniken, geprägt wird. In welchem Verhältnis steht denn die Philosophie zu den Wissenschaften? Der Philosoph ist kein Wissenschaftler, er ist auch kein Techniker. Der Philosoph spricht in der Sprache, die man seit 2000 Jahren verwendet. Er steht in einer langen Tradition. Er kann die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden vielleicht deuten, verallgemeinern oder kritisieren. In Ihren Büchern sprechen Sie auch immer von der Krise der Linearität, die mit dem Computer und dem digitalen Code einhergeht. Die Philosophie ist mit ihrem geschichtlichen Hintergrund ja nun par excellence ein lineares Denken. Wie also verhält sich der Philosoph der Wissenschaft und Technik zur traditionellen argumentativen Philosophie? Flusser: Darauf möchte ich Ihnen zunächst eine banale Antwort geben. Was wir Philosophie nennen, ist ein Erbe der präsokratischen Denker. Es ist eine spezifische Einstellung zu den Problemen der Welt und dann später des Lebens, die mit dem Wort Theorie faßbar ist. Philosophie ist die Einstellung, in der die Dinge nicht als Erscheinungen angesehen werden, sondern die hinter den Erscheinungen irgendwelche Formen vermutet und behauptet, daß wir die Fähigkeit besitzen, diese Formen durch eine spezifische Ansicht sichtbar werden zu lassen. Diese Ansicht heißt griechisch Theorie. Diese theoretische Disziplin, die diskursiv war, hat zuerst alle Gebiete der Erkenntnis umfaßt. Im Verlauf der Geschichte haben sich langsam die Wissenschaften eine nach der anderen von der Philosophie abgespalten. Es gibt Leute, insbesondere in den angelsächsischen Kulturen, die behaupten, daß die Philosophie völlig von den verschiedenen Wissenschaften entleert wurde und daß ihr jetzt nichts anderes übrigbleibt, als über die Wissenschaft, die aus ihr entstanden ist, nachzudenken, daß also die Philosophie nichts anderes sein kann als Wissenschaftskritik. Ich würde nicht soweit gehen. Ich würde sagen, daß es Gebiete gibt, die die Wissenschaft nicht besetzt hat und die von der Wissenschaft per definitionem gar nicht besetzt werden können, nämlich die Gebiete der Werte. Auf dem Feld der Werte ist die Methode des theoretischen Denkens noch immer gültig. Es gibt also zwei Gebiete, für die die Philosophie noch immer kompetent ist: die Kritik der Wissenschaft und die der politischen oder ästhetischen Werte. Jetzt zur Struktur der Philosophie. Sie haben mit Recht gesagt, daß die Philosophie der Struktur nach traditionell diskursiv sei. Das stimmt nicht ganz, denn es gibt auch eine mathematische Philosophie. Sie können beispielsweise von der logischen Analyse oder vom sogenannten Neopositivismus nicht sagen, daß sie diskursiv seien, denn sobald Sie sich in der symbolischen Logik ausdrücken, sieht ein philosophisches Buch eher wie eine Serie von Algorithmen aus als wie eine Serie von textualen Sätzen. Aber die Philosophie ist im Prinzip seit den Vorsokratikern bis hin zu den gegenwärtigen Philosophen diskursiv, an denen ich allerdings aus den genannten Gründen Zweifel habe, ob sie noch Philosophen sind. Seit einigen Jahrzehnten können wir eine seltsame neue Entwicklung beobachten, an der ich außerordentlich interessiert bin. Es gibt Leute, die mit Bildern zu philosophieren beginnen. Das klingt natürlich wie ein Widerspruch. Ich hatte vorher gesagt, die Philosophie habe es mit den Formen zu tun, die hinter den Erscheinungen sind. Die Bilder aber sind doch Erscheinungen. Wir haben aber neuartige Bilder. Wir besitzen Bilder, die die Formen des Denkens ansichtig werden lassen. Es gibt numerisch generierte Bilder, die, sagen wir einmal, platonische Formen auf dem Monitor anschaulich machen. Hier öffnet sich das Gebiet einer nicht mehr diskursiven, sondern mit Bildern arbeitenden Philosophie. Um das herauszustellen, habe ich in meinen Büchern von Kant den Begriff der Einbildungskraft entlehnt. Das sind allerdings nicht nur Computerbilder, weil wir in der letzten Zeit ein komisches Instrument entwickelt haben, das Video heißt. Das ist im Grunde genommen ein Spiegel, der den Weg für eine neue philosophische Methode öffnet. Der Monitor des Video hat zwei seltsame Eigenschaften. Er kehrt erstens links und rechts nicht um wie die Spiegel, an die wir gewöhnt sind. Zweitens hat er ein Gedächtnis. Es ist also ein nicht umkehrender, mit einem Gedächtnis versehener Spiegel. Wer Spiegel sagt, sagt auch Reflexion oder Spekulation. Und wer dies sagt, sagt auch Philosophie. Vielleicht haben wir - malgre nous und ohne daß die Videoleute sich dessen bewußt sind - ein Instrument erfunden, mit dem sich mindestens so gut philosophieren läßt wie mit den 26 Buchstaben. TPJ: Wie würde denn dies aussehen? Flusser: Ich habe ein Buch geschrieben, das "Angenommen" heißt. Dort habe ich versucht, Scenarios für Videoclips zu schreiben. Es ist bislang noch niemand gekommen, der das gemacht hätte, aber ich habe die Hoffnung noch nicht verloren. Ich sehe vor mir, wie das sein könnte. Ein Beispiel. Das erste Scenario habe ich "Großmutter" genannt. In ihm habe ich den Versuch gemacht, drei Bedeutungen des Wortes Venus bildlich übereinander zu schieben, so daß man eine Querlektüre hat: Venus als Planet, in dessen Anziehungskraft eine Sonde gelangt, die von der NASA geschickt wurde; Venus als mythischer Begriff der Weiblichkeit, also als die Philia, vor der ein logos spermatikos von der Erde in Form einer Sonde erscheint; und schließlich Venus als ein Ei, in das die Sonde als ein Sperma eindringt. Ich habe also versucht, das Astronomische, das Mythische und das Biologische übereinander zu legen. Ich dachte mir, daß man dies in einem Clip von etwa 5 Minuten aufregend gut zeigen kann, daß man in Bilder Astronomie, Mythos und Biologie sich überdecken lassen kann, daß man dies auch von Worten und Tönen begleiten lassen kann. TPJ: Ein Philosophieren in Bildern würde doch heißen, daß man Szenen erstellt. Damit aber könnte man weder begründen noch erklären, was für die Philosophie doch bislang maßgeblich war. Flusser: Ich habe Ihnen vorher gesagt, daß wir dazu gezwungen sind, diese Art von Argumentation aufzugeben. Wir können die Phänomene nicht mehr in einen Diskurs von Ursache und Wirkung einbauen, sondern wir müssen mit Zufall und Notwendigkeit spielen. Wenn Sie die drei Ebenen beispielsweise ineinanderfügen, von denen ich vorhin gesprochen habe, so können sich zufällig Kombinationen ergeben, die den Hersteller der Bilder selber überraschen. Ist es nicht das Erlebnis des Philosophierens, daß Sie in einer Art des Denkens verfangen sind, in der sie von Überraschung zu Überraschung schreiten? Meint das nicht Aristoteles, wenn er sagt, daß die Menschen einst und jetzt aus Überraschung begonnen haben zu philosophieren? Wenn man dem Entstehen von Bildern in einem Computer zusieht oder wenn man sich vorstellt, wie so ein Video funktionieren würde, dann würde man ganz im aristotelischen Sinne dieses Satzes philosophieren. Ich habe, wenn ich noch einmal über mich selbst sprechen kann, ein zweites Buch geschrieben. Das ist eine Fabel. Fabeln wurden noch nie richtig geschrieben, falls Sie unter Fabel den Versuch verstehen, Tiere zu Wort kommen zu lassen, damit sie von ihrem Standpunkt aus beginnen, den Menschen zu kritisieren. Alle Fabeln, die ich kenne, handeln nicht von Tieren, sondern von Menschen, die als Tiere verkleidet sind. Ich habe versucht, dies anders zu machen. Ich habe mir einen Enzephalopoden vorgestellt. TPJ:Eine Krakenart also ... Flusser: Ja, einen Kopffüßler. Einiges habe ich doch im Leben gelernt. Eins davon ist, daß man exakt sein muß, wenn man phantasiert. Wenn man nicht phantasiert, kann man sich Freiheiten erlauben. Das ist das Tödliche am akademischen Denken, weil es immer geschützt denkt und daher in den Staub fällt. Wenn man phantasiert, dann kann man sich das nicht erlauben. Ich habe den Begriff phantasia essata, der, so glaube ich, von Leonardo stammt, intus. Ich habe dieses Vieh nicht erfunden, sondern entdeckt. Mit meiner Frau bin ich von Aquarium zu Aquarium gefahren und habe mich für die Physiologie und, wenn Sie gestatten, für die Psychologe von Enzephalopoden interessiert. Ich habe den darwinschen Baum des Lebens aufgegriffen und ihn ein wenig fortgesetzt. Ich habe die jetzt existierenden Kraken als Anthropoiden angesehen und aus diesen eine Krake sapiens sapiens hinausprojiziert. Aber alles an ihm ist biologisch wahr. Alle anderen Angaben, die ich von ihm gegeben habe, sind wissenschaftlich richtig. Ich habe mir aber nicht nur das Vieh vorgestellt, so wie es uns anglotzt, sondern ich habe mir auch seine Lebenswelt vorgestellt. Ich habe mir überlegt, wie die Welt aussehen müßte, wenn man sie aus der Tiefsee ansieht. Die Erde würde ganz anders aussehen. Das ist eine Art Philosophie. Man geht nicht von oben oder transzendent und nicht von unten oder strukturell vor, sondern man geht von der Seite aus. Es ist ein Seitensprung des Philosophierens. TPJ: Das wäre also ein Denken, das versucht, andere Wahrnehmungsformen und andere Wirklichkeitsperspektiven zu entwickeln. Bestünde darin noch ein legitimer erkenntnistheoretischer oder -spekulativer Sinn der Philosophie? Flusser: Ja, denn wir müssen uns jetzt daran gewöhnen, daß es alternative Räume und Zeiten gibt. Mit einer Technik, die es uns erlaubt, Szenen zu projizieren, die sich an Konkretizität mindestens mit denen von den Sinnen wahrgenommenen Szenen vergleichen lassen, sind wir dazu gezwungen, ebenso alternativ zu philosophieren. Mir gefällt das Wort virtuell gar nicht, weil es unter anderem viele Macho-Konnotationen hat. Da es keine nicht virtuelle Realität gibt, da Realität nur ein Grenzbegriff ist, dem wir uns nähern und den wir nie erreichen können, kann ich von alternativen Weisen des Erreichens von Realität sprechen. Das kann ich technisch und theoretisch erreichen. Ich kann sagen, daß eine ganze Reihe von theoretischen Erwägungen der Wissenschaft von alternativen Realitäten handelt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Der Riemannsche Raum ist ja ein alternativer Raum zum euklidischen. Daß wir jetzt den Riemannschen Raum mehr anwenden als den euklidischen, wenn wir vom kosmischen Raum sprechen, konnte Riemann nicht voraussehen. Wenn die Wissenschaft und die Technik die verschiedenen Formen der Realisierung von Möglichkeiten anerkennen, dann muß dies doch die Philosophie auch tun. Man sollte eine Disziplin ausarbeiten, die darauf verzichtet, den Unterschied zwischen real und fiktiv als Kriterium anzuwenden und die statt dessen mit dem Unterschied zwischen konkret und abstrakt arbeitet. Wahrscheinlich ist dies nicht der Ort, die Parameter dieser Kriterien vorzustellen, aber Konkretizität hat im Unterschied zur Realität den Vorteil, daß sie steigerbar ist. Ich kann sagen, etwas ist konkreter, greifbarer, manifester als etwas anderes. Das ist ein relativer Begriff. Realität ist zwar auch ein relativer Begriff, aber man sieht ihm das nicht so an. Die Leute sprechen von der harten Realität oder von der brasilianischen Wirklichkeit oder von ähnlichem Blödsinn, als sei dies eine faßbare Situation, während es sich doch nur um einen Grenzwert handelt. Deswegen geht mir auch der Begriff der Simulation so gegen den Strich. Wenn etwas simuliert wird, also etwas anderem ähnlich ist, dann muß es etwas geben, das simuliert wird. Im Begriff der Simulation oder des Simulakrums steckt ein tiefer metaphysischer Glaube an etwas Simulierbares. Diesen Glauben teile ich nicht. TPJ: Sie meinen, es gäbe kein Original oder keine objektive Wirklichkeit, die simuliert werden könnte? Flusser: Ja, aber ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Das Wort Simulation ist das indirekte Eingeständnis an einen transzendentalen Glauben. Wenn ich glaube, daß ich etwas nachahmen kann, dann glaube ich auch, daß es etwas gibt, das nicht nachahmt - nicht nur im Sinne des Originals, sondern beinahe im aristotelischen Sinne des unbewegten Bewegers, des primus motor. Im Wort Simulation verbirgt sich meiner Meinung nach der Rest eines Glaubens ans Absolute. TPJ: Ihre Vorstellung scheint derjenigen ähnlich zu sein, die man als philosophische Konzeption im sogenannten radikalen Konstruktivismus findet. Der Konstruktivismus geht davon aus, daß man Wirklichkeit nicht beschreibt oder passiv wahrnimmt, also daß man sie auch nicht entdeckt, sondern erfindet. Das Bild der Wirklichkeit hängt beispielsweise ab von der Art der Sinnesorgane und davon, wie sie von unserem Gehirn, also von unserem neuronalen Computer, errechnet wird, weswegen sie auch ganz anders sein bzw. auf dem "mentalen Bildschirm" dargestellt werden könnte. Daher ergibt sich auch für den radikalen Konstruktivismus die Konsequenz, die Begriffe real und fiktiv und überhaupt die Ontologie hinter sich zu lassen. Wenn Sie die Begriffe abstrakt und konkret anbieten, wie würde denn dann die alte Unterscheidung in die neue eingehen können? Unser Weltbild ist doch noch immer davon geprägt, daß sich die Wissenschaften auf eine objektive Realität beziehen, während in der Kunst Scheinwelten erzeugt werden. Wir sperren Menschen in Psychiatrien ein, weil sie Halluzinationen haben, während wir davon ausgehen, daß sich die "normalen" Menschen einigermaßen ordentlich auf eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit beziehen oder dies zumindest sollten. Flusser: Ich werde von einem psychiatrischen Beispiel ausgehen, weil mir das so gut gefallen hat. In den Jahren von 1933-1945 gab es in Deutschland doch eine Gesellschaft, die normal war. In dieser Gesellschaft gab es Wahnsinnige, die ins Irrenhaus gesperrt wurden. Aus dem Rückblick sehen wir, daß wir die meisten Leute damals hätten ins Irrenhaus sperren sollen. Psychose ist natürlich ein relativierbarer Begriff. TPJ: Eine Psychose könnte ja das Kriterium der Konkretheit erfüllen, was aber nichts darüber aussagt, ob sie auch "wirklichkeitstüchtig" oder viabel ist. Sie verhindert beispielsweise die Kommunikation mit anderen Menschen, weil die gemeinsame Wirklichkeit verlassen wurde. Flusser: Ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen, die ich in Graz gehört habe und die mich zutiefst beeindruckt hat. Bertrand Russel hat jemand empfangen, der ihn während des Gespräches dann kritisierte. Er sagte, daß er alles, was Russel behauptete, für richtig halte, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, nämlich wenn er sagt, daß Julius Cäsar im Jahre 44 vor Christus gestorben ist. Darauf fragte Russel, warum er gerade diese Aussage für falsch halte. Nun ja, sagte sein Gast, weil ich Julius Cäsar bin. Die Geschichte hat mir deshalb gut gefallen, weil sie zeigt, daß eine Kommunikation besteht und daß im Sinne Russels die Aussage dieses Menschen, der sagt, ich bin Julius Cäsar, gar nicht falsifizierbar ist. Der Sachverhalt, daß er behauptet, Julius Cäsar zu sein, ist ja ein Beweis für die Tatsache dieser Behauptung. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen zufriedenstellend geantwortet habe. Mir erscheint es wichtig, die Kategorien umzubauen. Wir sollten auch wahr und falsch anders denken. Wenn wir beispielsweise mit wahrscheinlich und unwahrscheinlich operieren, kommen wir der Sache näher. Wir müssen immer relative Begriffe haben und es uns abgewöhnen, mit absoluten Begriffen zu arbeiten. TPJ: Meine Frage zielte darauf, wie man sich mit den von Ihnen intendierten Kategorien in der Wirklichkeit, oder wie immer man das Referenzobjekt nennen will, orientieren kann. Um das ein wenig zu konkretisieren, würde ich einmal so fragen: Wäre es für Sie in dem Sinne möglich, wie wir es gewöhnt sind, nach Wahrheit zu streben, daß wir sagen, wir sollten nach größerer Konkretheit oder nach grösserer Unwahrscheinlichkeit streben? Gibt es für Sie Imperative, die die alten ersetzen? Flusser: Imperative sind eine komische grammatikalische Form, die sich relativieren läßt. Wir können Imperative in Funktionen umcodieren, und dann sehen sie anders aus. Anstatt dem Imperativ: Du sollst nicht stehlen! heißt es dann: Wenn du stiehlst, kommst du ins Gefängnis! Dann ist die Frage, was ich lieber will. Will ich stehlen, dann muß ich damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, oder will ich vermeiden, ins Gefängnis zu kommen, dann sollte ich nicht stehlen. Das ist eine andere Art von Moral, die mir sympathischer ist als die autoritative Moral der Imperative. Aber Sie haben vorhin gesagt, daß Sie das, was ich sage, an den radikalen Konstruktivismus erinnere. Aber was ich sage, hat eine andere Seite, die im Konstruktivismus nicht enthalten ist. Der Konstruktivismus, falls ich ihn simplifizieren darf, sagt: Wir stellen die Welt her. Ich hingegen meine, daß es ein solches Wir gar nicht gibt. Das Herstellen der Welt auf der einen Seite führt zum Herstellen des Wir auf der anderen Seite. Es gibt eine neutrale Zone des Herstellens. Abgesehen von der alten griechischen Sprache kann man dies in den indogermanischen Sprachen gar nicht ausdrücken. Ich meine das, was im Altgriechischen der Aorist war. Wir denken doch so: Entweder ich sage: "Ein Hirt weidet eine Schafsherde", oder ich sage: "Eine Schafsherde wird von einem Hirten geweidet". Das ist bei uns die aktive und die passive Form. Die Konstruktivisten glauben an die aktive Form: "Wir weiden die Schafe". Positivisten beispielsweise meinen, daß die Schafe geweidet werden. Es gibt aber eine dritte Form, die ich so übersetzen würde: Es gibt ein Weiden von Hirten und Schafen, also es gibt Hirten und Schafe, die in einem Weideverhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis ist mathematisch leicht als Funktion F(xy) auszudrücken. Das ist ein Beispiel dafür, wie der linguistische Diskurs nicht mehr fähig ist, das gegenwärtige Bewußtseinsniveau zu artikulieren. Wenn ich davon ausgehe, daß es hier eine Konstellation von Möglichkeiten gibt, daß sich diese Möglichkeiten zufällig verketten und durch diese Verkettung immer notwendiger werden, dann entsteht einerseits das, was wir früher das Konkrete genannt haben, und andererseits das, was wir früher Ich genannt haben. Das Konkrete ist konkret für das sich herausstellende Ich, und das Ich ist ein Ich für das sich herausgestellt habende Konkrete. Jetzt müßte ich diese komische Ontologie, falls dies noch eine sollte, noch etwas raffinierter machen. Dieses Ich kann nie alleine da sein, es ist immer ein Du, woraus ein seltsames Wir entsteht, das nicht genau dasselbe ist wie in der deutschen Sprache die erste Person Plural, sondern eher, wenn Sie mir gestatten, die vierte Person Einzahl. Dieses Wir ist das Gegenteil des Es. TPJ: Wir sind am Anfang davon ausgegangen, daß die Techniken doch sehr stark die Umwelt des Menschen verändern, wodurch sich auch der Mensch verändert. Das aber ist doch ein aktiver Prozeß der Umgestaltung und der Konstruktion von Welt, während das, was Sie jetzt formuliert haben, eher einer Phänomenologie des Daseins entsprechen würde, die davon ausgeht, daß wir nicht eine Welt konstruieren, sondern daß wir uns in ihr finden. Das sind einfach zwei verschiedene Wege. Flusser: Ich weiß nicht, ob wir uns in einer Welt befinden. Wir befinden uns in einem Möglichkeitsfeld, aus dem eine Welt wird. Und daß wir uns darin befinden, ist auch nicht der richtige Ausdruck. Es müßte heißen, daß wir uns darin realisieren. Aber Sie haben gesagt, das sei aktiver Vorgang. In den letzten zwei Minuten habe ich gegen die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv argumentiert. Ich wollte sagen, es stimme zwar, daß wir aktiv unsere Werkzeuge erzeugen und dadurch die Welt aufstellen, aber es ist ebenso wahr, daß diese Werkzeuge auf uns zurückschlagen und uns herstellen. Die Behauptung ist richtig, daß der Webstuhl ein Produkt unserer Aktivität ist, aber ebenso richtig ist es zu sagen, daß der Geist des 19.Jahrhunderts ein Produkt des Webstuhles ist, also eine Folge der Einsicht, wie man Weben mechanisieren kann. Goethe hat in diesem Sinne gesagt, es sei mit der Gedankenfabrik wie mit dem Webermeisterstück. Einerseits ist es also die Aktivität des Menschen, der dank seiner Werkzeuge die Welt verändert, aber andererseits ist es die Aktivität des Werkzeuges, das die Menschen herstellt. Können wir es nicht einmal versuchen, aktiv und passiv auszuklammern, auch wenn uns dies nicht gelingen wird, und statt dessen ein neutrales Verhältnisverbum erfinden? Wenn Sie nämlich unter Aktivität wörtlich ein Eingreifen und unter Passivität wörtlich ein Leiden, ein Einbegriffenwerden verstehen, also Agent und Patient im Sinne von Arzt und Krankem, dann könnten wir uns doch vielleicht daran gewöhnen, das Kranksein oder das Krankwerden ins Zentrum des kritischen Unternehmens zu setzen? Das hat religiöse Implikationen, die ich nicht leugnen will. Wenn ich von der Passion Christi spreche, dann meine ich damit nicht nur ein Leiden, sondern auch ein Handeln. Sind wir im Kleinen nicht alle in diesem Sinne passionell und passioniert? Und meint nicht auch engagiert eben das? TPJ: Ich will aber noch einmal auf die Frage nach der Orientierung zurück, weil sie auch für die Philosophie zentral ist. Woran sollen sich Menschen orientieren, die in unserer technowissenschaftlich geprägten Welt leben? Objektivität und Wahrheit können in Ihren Augen keine gültigen Kriterien mehr sein, wenn es darum geht, Möglichkeiten zu realisieren und Wirklichkeiten zu gestalten. Es müßte dann doch ein ethisches oder ästhetisches Kriterium für die Erzeugung von Wirklichkeiten geben. Was würden Sie denn persönlich dafür anbieten? Sollte denn alles realisiert werden können, was nur möglich ist? Flusser: Ich kann mich mit dem Wort Orientierung nicht anfreunden, denn es setzt voraus, daß es eine Lage gibt, die man überblicken und man sich daher für Wege entscheiden kann. Das ist nicht meine Sicht. TPJ: Aber Sie sprechen doch vom Entwerfen von Möglichkeiten, was heißt, daß es stets viele gibt. Es sollte also möglich sein, bestimmte Entscheidungen zu fällen. Flusser: In den einzelnen Entwürfen kann man sich orientieren. Ich kann mich sehr gut beispielsweise im Entwurf der Biotechnik orientieren. Ich nehme irgendeine Landkarte, beispielsweise den Darwinismus, und sage, innerhalb dieser Landkarte gibt es Mutationen. Dann kann ich mich in der künstlichen Wirklichkeit Darwins orientieren, aber ich kann nicht aus ihr herausspringen und mich damit in einer fraktalen Wirklichkeit orientieren. Wir müssen hinnehmen, daß wir in der Unordnung, im Chaos leben, denn wer Zufall sagt, sagt auch Unordnung, und wer Zufall sagt, verzichtet auch auf Orientierung. Statt der Orientierung hat man allerdings etwas viel Gewaltigeres, nämlich das Entwerfen. Ich kann mich ja aus dem Chaos entwerfen in eine mich herstellende und von mir hergestellte Ordnung. Ich kann dann sagen, daß ich etwas zwecks partieller Orientierung entwerfe, wobei ich aber immer wieder hinnehmen muß, daß wir verlorene Wesen sind. TPJ: Mittlerweile ist es ja gängig geworden, daß wir von der Pluralität der Weltzugänge, von der Pluralität der Erkenntnismodelle oder von der Relativität jeder Erkenntnis auszugehen haben. Wir können - am deutlichsten auf der politischen Ebene - aber beobachten, daß Pluralität erhebliche Konflikte mit sich bringt, also beispielsweise die nationalistischen Konflikte, die wir jetzt vor allem Osten beobachten können. Gibt es denn von Ihrem Denken des Entwerfens von möglichen Welten und des Lebens in Kontingenz aus eine Art politischer Utopie, wie denn plurale Welten, die sich ja auch durchaus bekämpfen oder einander widersprechen können, zusammen existieren können? Und wie sieht das auf dem Feld der Philosophie oder der Epistemologie aus? Auch philosophisch sind wir ja immer noch christlich an Versöhnung orientiert, was heute auch erkenntnistheoretisch nicht mehr zu klappen scheint. Flusser: Ich bin der Meinung, daß das politische Bewußtsein im Begriffe ist, überholt zu werden. Das politische Bewußtseins ist eine Form des historischen Bewußtseins. Solange wir in der Magie und im Mythos gelebt haben, war von Politik keine Rede. Für das magische Bewußtsein ist alles belebt und die Menschen stehen zu allem in einem dialogischen Verhältnis. Jeder Baum hat einen Gott, jede Quelle eine Nymphe. So ein belebter Kosmos, in dem der Mensch nur eines unter vergleichbaren anderen Elementen ist, schließt ein politisches Denken aus. Das politische Denken entsteht durch die Materialisierung der Welt und durch das Herausklammern der Menschen aus der Welt, wodurch die Frage entsteht, wie ich gut mit anderen Menschen leben kann. Das ist ein, wie Hegel gezeigt hat, dialektisches Thema, denn in dem Moment, in dem ich zu anderen hinausgehe, um mich mit ihnen über das gute Leben zu verständigen, verliere ich mich darin, während ich, sobald ich wieder zurückkehre, die Welt verliere. Hegel schildert mit Recht das unglückliche Bewußtsein als das politische Bewußtsein tout court. Jetzt aber ist das zu Ende. Wir haben keinen politischen Raum mehr, worin wir einander auf diese Art und Weise begegnen könnten, um zu einem Konsens zu kommen. Statt dessen haben wir reversible Kabel. Das ist eine technische Frage, eine Frage der Schaltung. Die Kommunikationsrevolution besteht in einer Umkehrung des Informationsstromes. Die Informationen gehen nicht mehr vom Privaten ins Öffentliche, sondern sie gehen durch die Kabel zwischen den einzelnen Menschen. Statt eines politischen Bewußtseins und Gewissens gewinnen wir langsam und mühselig ein intersubjektives Bewußtsein, ein Bewußtsein des konkreten Anerkennens des Anderen. Wir klassifizieren nicht mehr abstrakt die Menschen in Klassen, Rassen und Völker, sondern jetzt geht es um die Anerkennung des Anderen als Anderen und darum, von ihm anerkannt zu werden. Das überschreitet das politische Bewußtsein ebenso, wie einst das politische Bewußtseins das magische Bewußtsein überschritten hat. Das ist kein Fortschritt, sondern eher eine Aufhebung im Hegelschen Sinne. Darauf kann ich jetzt auch nicht eingehen. Das ist das Unangenehme bei Interviews, daß man auf Nichts wirklich eingehen kann. Jetzt haben Sie mit Recht von den schrecklichen Dingen gesprochen, die sich im Osten wie im Westen zeigen und die Sie mit dem Wort Nationalismus bezeichnet haben. Ich würde das eher mit dem Wort Skinheads charakterisieren. Aber ich glaube nicht, daß das ein politisches Phänomen ist. Das ist ein Rückfall in vorpolitische Situationen. Es entstehen Nationalstaaten, es entstehen wieder religiöse Bewegungen, es entsteht Fremdenfeindlichkeit und darauf folgende Brutalitäten. Es sieht so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen, als gingen wir an den Anfang des 20.Jahrhunderts oder an das Ende des 19.Jahrhunderts zurück. TPJ: Das globale elektronische Dorf, von dem McLuhan als Zukunft gesprochen hat, existiert offensichtlich trotz aller Informationsmedien nicht. Es scheint eher einen Widerstand dagegen zu geben, sich vernetzen zu lassen, also die Entfernungen und Differenzen aufzuheben. Flusser: So sieht das aus. Aber wenn Sie das näher ansehen, dann spricht schon die Tatsache, daß sich die Geschichte zu wiederholen scheint, dafür, daß es sich nicht mehr um Geschichte handelt. Das Spezifische an der Geschichte ist doch die Unwiederholbarkeit. Für das Geschichtsbewußtsein ist doch jeder Augenblick einzigartig, und jede verlorene Gelegenheit ist für es definitiv verloren. Der Unterschied zwischen Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit ist der einzige Unterschied zwischen Geschichte und Vorgeschichte. Die Vorgeschichte glaubt an die ewige Wiederkehr des Gleichen. Jetzt haben wir das dumpfe Gefühl einer Wiederkehr des Gleichen. Ich glaube, das ist kein geschichtliches, sondern ein nachhistorisches Ereignis. Es ist eine Brutalisierung und eine Perversion des formalen Denkens. TPJ: Warum? Flusser: Ich habe z.B. ein bißchen über die Pamiat gelesen. Das ist eine slawophile, auf Dostojewski fußende Bewegung, die an die heilbringende Funktion des russischen Volkes glaubt und die Juden umbringen will. Das scheint die Wiederholung einer Idee des 19.Jahrhunderts zu sein. Wenn man näher hinsieht, so sieht es eher wie eine formale Analyse einer gegebenen Situation aus, die nicht durch Vernunft, sondern durch Emotionen geprägt ist. Es ist die Karikatur dessen, was wir von einer posthistorischen Denk- und Handlungsweise erwarten. Ich glaube also nicht, daß McLuhan tatsächlich widerlegt ist. Ich glaube eher, daß zwischen dem Dorf, von dem er spricht, und den sich historisch entwickelnden Gebilden, die das Dorf überschreiten sollen, eine Periode des Umbruchs und des Chaos erscheint, in der die staatlichen und nationalen Strukturen erst einmal zerbröckeln und sich so verhalten, als würden sie sich multiplizieren, bevor sie in höhere Ebenen eingehen. Jugoslawien zerfällt nicht zugunsten irgendeines Makedonien, sondern zugunsten irgendeiner überregionalen Vernetzung. TPJ: Ich hatte Sie vorhin gefragt, wie es denn aussieht, wenn man lauter konkurrierende oder alternative Weltentwürfe von einzelnen, von Gemeinschaften, von Staaten, von Wissenschaften vor sich hat. Wie könnte man in dieser Pluralität noch eine Einheit denken, so daß sie nicht zu neuen Katastrophen, zu einem Dschungelkampf führt? Wenn man davon ausgeht, daß Wirklichkeiten entworfen werden, dann gibt es für das Handeln der Menschen überdies eigentlich keinen Sinn, denn auch dieser muß mit erzeugt werden, weil man sich auf nichts berufen kann. Sie nennen das manchmal die absurde Situation des Menschen, der weiß, daß er alles projezieren muß. Flusser: Ja, das ist die Sinngebung als Thema des Dialogs. Wenn ich nicht nur durch die Vernunft, sondern existentiell annehme, daß das Ich, die sogenannte Identität, eine Verknotung von Relationen ist, dann ist es gegeben, an verschiedenen Verknotungen teilzunehmen und dabei irgendein eigenes Charakteristikum im Vergleich zu anderen zu bewahren. Ich will das noch deutlicher machen. Wenn ich mir darüber klar werde, daß ich nichts anderes bin als derjenige, der jetzt mit Ihnen spricht, oder derjenige, der in diesem Hotel ist, oder derjenige, der in der gegenüberliegenden Bank morgen einen Vortrag hält, wenn ich mich als einen Knotenpunkt dieser Relationen ansehe, dann habe ich doch gesagt, daß ich verschiedene alternative Existenzen führe. Gleichzeitig bin ich jemand anderes als Sie oder als jemand von der Bank oder vom Hotel. Das erklärt näher, was ich unter alternativen Welten verstehe. Ich lebe so oft, wieviel ich durch Vernetzung an Verknotungen teilnehme. Das ist auch eine Antwort auf diesen scheinbaren Zerfall der Einheiten, den wir in Osteuropa sehen. Vielleicht hatten die Anarchosyndikalisten a Anfang dieses Jahrhunderts Recht. Ich engagiere mich als Schachspieler in einem Schachclub, der eine geschlossene Gesellschaft ist. Aber dies ist er nur solange, wie ich in ihm drin bin. Im nächsten Moment engagiere ich mich als Vater eines Kindes in einer Volksschulverwaltung, die auch ein geschlossenes System ist. Geschlossen ist sie aber nur als System. Für mich sind der Schachclub und die Volksschulverwaltung geschlossene Systeme, zwischen denen ich wie von einer alternativen Situation zur anderen als ein Quantum hinüberspringe. TPJ: Wir haben aber doch immer das Bewußtsein, dabei dieselben zu bleiben, auch wenn wir uns in verschiedenen Wirklichkeiten oder Systemen realisieren? Flusser: Ja, aber wir wissen doch jetzt, daß Identität und Anderssein einander implizieren. Ich habe ja gesagt, daß ich das Bewußtsein des Selbst im Verhältnis zu einem Anderen habe. Ich kann nur sagen, daß ich zugleich das Mitglied eines Schachclubs und eines Schulvereins bin, wenn ich dies einem anderen mitteilen kann. An und für sich gibt es dieses Bewußtsein nicht. Wenn ich in einen Schachclub eintrete und mich in ihm engagiere, dann vergesse ich mich. Selbstvergessenheit ist doch das Charakteristikum eines solchen Eintritts. Das Selbstbewußtsein entsteht erst, wenn ich mich davon entferne und jemand anderem darüber Rede und Antwort stehe. TPJ: Was ich aber am Abschluß noch einmal nachfragen will, ist das Thema der Ethik. Sie sprachen davon, daß man in bestimmten Vernetzungen lebt, daß man selbst jemand ist, der aus vielen Vernetzungen besteht und irgendwie doch einer ist. Wäre es denn für eine Ethik unserer Zeit eine Maxime zu sagen: Knüpft Vernetzungen! Macht möglichst viele Vernetzungen! Hinzukommt, daß wir in Ihrem Sinne nur leben, wenn wir Möglichkeiten entwerfen und realisieren. Dann aber müssen wir doch auch darüber nachdenken, welche Möglichkeiten wir nicht realisieren sollten, um uns oder andere nicht zu ruinieren. Flusser: Die erste Frage ist besser als die zweite. Ich glaube, die Ethik ist implizit in allem, was ich gesagt habe. Wenn ich nur für jemanden anderen da bin, und jeder andere nur für mich da ist, dann ist darin eine Ethik der Verantwortung, des Daseins für den Anderen, impliziert. Das ist der Tod des Humanismus. Der Humanismus ist eine Ethik, die sich auf eine Klasse, beispielsweise auf die Klasse Mensch, bezieht. Das ist der berühmte Satz: "Ich liebe die Menschheit, aber was mir auf die Nerven geht, sind die Leute." Diese Idee der allgemeinen Verantwortung stirbt. An deren Stelle tritt eine persönliche, intersubjektive Verantwortung. Die Ethik erhält dann das Kriterium der Nähe. Je näher mir jemand örtlich, zeitlich, aber auch thematisch steht, desto mehr Verantwortung trage ich für ihn und desto mehr Verantwortung trägt er für mich. Diese Verantwortung ist etwas Gegenseitiges. Das ist etwas sehr Altes. Man nennt das Nächstenliebe. Durch die Hintertür kommt ein neuer Begriff der Nächstenliebe, weil ein neuer Begriff der Nähe entstanden ist. Die Vorsilbe Tele-, die wir in der Telematik und in vielen anderen Techniken finden, bedeutet das Näherbringen des Entfernten. Ethisch heißt das, daß mich das Ferne nichts angeht. Ich muß es näherbringen, damit es mich angeht. TPJ: Andererseits kann man doch sagen, daß wir durch die Telepräsenz, also wenn wir im Fernsehen irgendwelche sterbenden Kinder oder Kriege sehen, einen coolen Blick eintrainieren. Wir sind Beobachter wie bei einem Theaterstück, aber es erweckt in uns keine Gefühle, wir sind nicht engagiert, wir sind Zeugen eines Ereignisses, ohne davon betroffen zu werden. Durch die Teletechnologien verschwindet zwar die Ferne und rückt uns näher, aber durch dieses Näherrücken wird anscheinend diese Nächstenliebe eher verhindert, zumindest aber erschwert. Flusser: Sie haben Recht, aber Sie haben ausgeklammert, daß ich gesagt habe, es sei ein verantwortliches Verhältnis. Wenn ich die Kinder in Abbessinien sterben sehe, dann kann ich dafür nicht verantwortlich sein, weil ich keine Kompetenz besitze, diese Situation in einem bedeutendem Sinne zu verändern. Das Neue an der Ethik, die ich sehr schlecht versuche auszuarbeiten, ist zu zeigen, daß Verantwortung etwas mit Kompetenz zu tun hat. Wenn ich hier morgen meinen Vortrag vor einer Gruppe von jungen Leuten halten werden, so werden sie mir näherrücken und ich werde versuchen, sie insoweit zu beeinflussen, wie dies in meiner Kompetenz steht. Ich werde beispielsweise versuchen, worin ich glaube kompetent zu sein, in den jungen Leuten Zweifel zu erregen und so gegen ihre Vorurteile zu wirken. Andererseits werde ich mich ihnen zu öffnen versuchen, um von ihnen geändert zu werden. Das ist für mich ein Modell der Ethik der Zukunft: Sich seiner Begrenztheit bewußt zu werden und durch die Begrenztheit meiner Fähigkeiten dazu genötigt zu werden, andere anerkennen zu können. Das ist eine sehr bescheidene Ethik, denn sie muß ja auch sagen: Das geht mich nichts an, dafür bin ich nicht kompetent! Ich bin nicht dafür verantwortlich, ob in der äußeren Mongolei Demokratie eingeführt wird oder nicht. Es ist ein verantwortungsloses Geschwätz, wenn ich mich jetzt für die Befreiung von Tibet engagiere. Hingegen bin ich dann verantwortlich, wenn in Südfrankreich, also da, wo ich jetzt lebe, Menschen Fremde prügeln. Ich muß irgend etwas innerhalb meiner Kompetenz tun, um das einzudämmen. Was ich gesagt habe, ist nicht gut gesagt, weil ich mich emotional habe hinreißen lassen, was ich nicht hätte tun sollen. Aber die Proxemik, die Nähe, ersetzt, glaube ich, den verwässerten Humanismus. TPJ: Diese Ethik des Konkreten liegt doch aber auf derselben Ebene wie die Nationalismen, von denen wir vorher gesprochen haben, die sich auch auf ihre Nähegemeinschaft zurückzuziehen beginnen. ... Flusser: Dagegen muß ich mich wehren. Das ist total unähnlich, denn diese Menschen schließen sich in eine Verkettung ein, während ich doch versucht habe zu sagen, daß die Verantwortung und die Freiheit darin besteht, daß ich zugleich an verschiedenen, einander überdeckenden Systemen teilnehmen kann. Dazu muß ich noch etwas sagen. Wenn ich in die Lebenswelt hineingeworfen werde, werde ich in Bindungen hineingeworfen. Ich bin durch die Tatsache, daß ich in eine Familie, in eine Klasse oder in eine historische Situation hineingeboren wurde, gebunden. Ich glaube, die Freiheit besteht darin, sich von diesen Bindungen zu befreien und neue freiwillig einzugehen, was nicht ausschließt, daß ich die gefundenen Bindungen aufhebe und zu gemachten gestalte. Aber der Nationalismus ist, wenn Sie gestatten, eine Schweinerei, weil er gegebene Bindungen heiligt, während die menschliche Würde darin besteht, die gegebenen Bindungen als gemachte aufzudecken. Wir sind wieder am Ausgangspunkt. Wenn ich annehme, ich bin als Kroate geboren und werde jetzt Kroatien heiligen, dann bin ich ein Schwein. Wenn ich hingegen mir dessen bewußt werde, daß Kroatien eine Fiktion ist, daß das kroatische Volk eine Fiktion der Tradition ist, dann bin ich in der Freiheit, aus dieser Fiktion auszutreten und dann vielleicht einige Bindungen, die mir diese Fiktion bietet, wieder auf mich zu nehmen. Das stinkt natürlich auch dann, denn warum sollte ich dann ausgerechnet Kroate sein und nicht Haussa? Mit Vilem Flusser sprach Florian Rötzer.
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