Internet: Postsystem, Emanation und Stadt.

Friedrich A. Kittler


TPJ: Glauben sie, daß dem Internet eine spezifische Bedeutung für den theoretischen und kulturellen Forstschritt zukommt?

Kittler: Ich würde zunächst gerne einen Satz übers Internet sagen, weil ich ja kein Experte bin, und mich frage, warum das im Moment so diskutiert wird. Ich glaube nicht, daß etwas anderes als was immer schon mit Postsystemen ermöglicht worden ist, durch das Internet als solches, bloß als Postsystem oder als Möglichkeit, sich schnell Nachrichten zu versenden und zu empfangen, herauskommen wird. Ich glaube, da sitzt ein von der schieren Quantität der exponentiellen Wachstumsraten angeregter philosophischer Optimismus auf dem Netz. Aber ich glaube ganz strikt, daß das Internet sich gegenüber allen bisherigen Postsystemen, so weit man sie in der Geschichte kennt, dadurch unterscheidet, daß es in einer anderen technischen Materialität arbeitet, daß es also eine Emanation des Computersystems ist - ohne Computer kein Internet, aber sehr wohl Computer ohne Internet.

Es scheint mir extrem wichtig zu sein, daß das Internet ein Medium ist, in dem nicht bloß Meinungen und Forschungsergebnisse verhandelt werden, sondern in dem das sich repräsentiert, und wahrscheinlich einzig und allein repräsentiert, was in andern Systemen nicht repräsentabel ist, nämlich die Computerei selbst. Das Schönste am Internet für mich ist die Möglichkeit, source codes downzuladen und computergenerierte Daten in diesem Netz hin- und herschicken zu können, also genau die Daten, die man sinnvollerweise nicht per Brief schickt oder mit Reitposten in Persien über die königlichen Wege jagt. Deshalb ist es auch klar, daß die Naturwissenschaften, sofern ihre materielle Basis heute der Computer selbst bereits geworden ist, vom Internet etwas haben; es geht ja nicht bloß darum, sich Forschungsergebnisse zuzuschicken, die man genausogut in Gutenbergtexte hineinschicken könnte, sondern es geht um Meßdaten oder um Computerkonstruktionszeichnungen, die alle computertechnisch repräsentiert sind, oder anders als im Computer gar nicht zu haben wären. Die interessante Frage ist, wann und wo, an welchen Stellen, kommen jetzt auch die Kulturwissenschaften in solche Bereiche hinein, wo ihr Datenmaterial selber computerisiertes Datenmaterial ist.

Es gibt ein paar Teilantworten jetzt schon. Die Archäologen z.B. können wahrscheinlich bei jetzigen Ausgrabungen ohne Netz gar nicht mehr arbeiten, weil ihre Daten selber im Computer sein müssen. Der große Vorteil heutiger Ausgrabungen gegenüber den Tagen Schliemanns ist es eben, daß zwar weiterhin alles zertrampelt wird - also um Troja 8 auszugraben, muß man Troja 1 bis 7 zerstören, das ist ja klar - nur daß Schliemann überhaupt nicht dokumentiert hat, was er kaputt macht, weshalb heute die Ausgrabungen in Troja vor allem so schwer sind. Heutige Ausgrabungen heißen eben, daß man das, was man wegräumt, computertechnisch repräsentiert, in einer n-dimensionalen Datenbank; man braucht ja ziemlich viele Dimensionen, um so eine Ausgrabungsstelle zu dokumentieren, und die ist dann im Computer, gehört in den Computer und kann dann auch Kollegen durch den Computer zugänglich gemacht werden. Ich denke, ähnlich ist es in der mittelalterlichen Genealogieforschung, die anders als durch Computer gar nicht mehr geführt werden kann, und da scheint mir das Internet dann immer als das exakte Medium anzuschießen, was dazu paßt. Alles andere ist ein bißchen trivialer und darüber braucht man kein Wort zu verlieren. Natürlich ist es bei den Preisen, unter denen wissenschaftliche Journale und Zeitschriften heutzutage laborieren, substantiell billiger, die Sachen als E-Mail- Zeitung zu organisieren, aber das ist keine Frage, die theoretisch relevant ist.

TPJ: Wie sind die Auswirkungen für die Literatur, Stichwort "Interaktivität"; es gibt ja Projekte, wo viele im Netz an einem, ich sage es mal traditionell, Buch schreiben. Sehen Sie da im Verhältnis Autor/Leser eine Weiterführung dessen, daß der Autor sich nicht nur als Subjekt auflöst, sondern auch als Individuum ?

Kittler: Ich kenne es zu schlecht, um jetzt ein endgültiges Urteil fällen zu können; es scheint prinzipiell möglich zu sein. Das einzige, was man heute, glaube ich, schon diskutieren kann, ist die garbage-rate: wieviel Müll wird dabei erzeugt. Die Wahrscheinlichkeit, daß wenn 10 000 Affen auf der Schreibmaschine herumtrampeln, mehr Müll entsteht, als wenn Shakespeare seine Werke schreibt, die ist ja sprichwörtlich in der ganzen Diskussion über Komplexitätstheorie oder über Pseudo- Random- Generatoren. Wir können uns, glaube ich, alle ziemlich gut vorstellen, daß es unwahrscheinlicher wird, daß ein Autor sein Buch von vorn bis hinten allein durchzieht und dann irgendwann das Manuskript auf den Markt bringt, sondern so, wie die Schreibmaschiene schon eine gewisse Präsenz des Verlagswesens auf dem Schreibtisch damals, 1880 hergestellt hat, so wird, glaube ich, das Internet noch viel mehr Öffentlichkeit an die Schreibplätze hineinspiegeln, und zwar ab ovo sozusagen, vom ersten Schreibakt an, ob der nun kollektiv oder individuell ist.

TPJ: Es gibt ja nun die Möglichkeit des Einbindens von Graphiken und Geräuschen. Sehen Sie darin eine Wiederkehr von dem, was sie vom Aufschreibesystem 1800 gesagt haben: "Dichtung ist ein Ersatz für sinnliche Medien"; gibt es da eine eigene Qualität des Internets für solche Bereiche wie Literatur, oder ist es bloß eine Verbesserung des Postsystems?

Kittler: Nein, da wird es, glaube ich, spannend, da hört es auf, eine Verbesserung des Postsystems zu sein, weil nicht nur das, was ist, was bereits ist, was schon ist, gesendet werden kann, sondern es wird ja vor allem in diesen graphischen Netzen systematisch simuliert. Das sind ja keine Abbildungen, die da zirkulieren, sondern es sind kollektiv konstruierte graphische Welten, die sich langsam erst herauskristallisieren. Und dann sind wirklich, im Unterschied zum System von 1800, bestimmte Sinnlichkeiten konstitutiv für diese modernen Medien, im Unterschied zu dem, was einst Literatur als eben sinnenlose Askese bedeutet hat. Vor allem scheint es sensationell - und das gilt jetzt wirklich nicht nur fürs Internet, das gilt für die gesamte Computergraphik - daß konstruktive Verfahren auf Sachen angewandt werden können, die bislang nur in diesem Engpaß entweder der Musik oder der Texte machbar waren, gerade wenn es um Simulation geht und nicht um Repräsentation von etwas. Die Malerei war vielleicht eine private Lösung einzelner Künstler, um Konstruktives und Imaginatives in einem Bereich zu tätigen, der sich damals sehr schlecht algorithmisieren ließ. Die Algorithmisierung der Graphik scheint mir eine der rasantesten Durchbrüche der Computertechnik zu sein, die passiert sind. Das kann man natürlich auf mehr Dimensionen ausdehnen und Töne oder andere Dimensionen miteinbeziehen.

TPJ: Wenn Sie sich ein Aufschreibesystem 2000 vorstellen, hat das Internet da einen spezifischen Platz ?

Kittler: Ich muß in dieser prinzipiellen Frage, die mir komischerweise ja nicht ganz zum ersten Mal gestellt wird, nochmal auf die erste Sache zurückkommen, diese Unterscheidung von normalen Postsystemen, Übertragungsmedien, Telematik im allgemeinen einerseits, und Internet anderseits. Computer sind so undurchsichtig und so miniaturisiert und so wenig repräsentabel, daß es dringend eine Instanz baucht, in denen ihre eigene Vieldimensionalität nach außen hin den Benutzern aufgedeckt oder gespiegelt wird. Wenn man neue Soft- oder Hardware kauft, kann man sich ja nie darauf verlassen, daß das Zeug funktioniert, und die Fachzeitschriften reportieren dann über den Divisionsfehler bei intel erst immer 8 Monate später, aber im Internet ist er sofort bekannt. Das Internet ist auch eine Emergency, eine Notfallösung: Die Firmen schicken ihre bugs, ihre updates, ihre workarounds, all diese schrecklichen Dinge, mit denen man dieses komplexe Tierchen Computer überhaupt am Leben hält, sofort aufs Internet. Die Leute greifen aufs Internet zu, die Leute teilen sich im Internet mit, wie man Windows wieder eins auswischen kann, das ist aber alles Internet, das ist undocumented Windows sozusagen. Also weil dieses Medium Computer so hyperkomplex ist und weil seine Wachstumsraten selber so exponentiell sind - in absehbarer Zeit wird die Entwicklung der Siliziumtechnologie weiter exponentiell wachsen - deshalb braucht es ein entsprechendes exponentiell wachsendes Medium, in dem dieser dark continent der Computerei sich selber abbilden kann, so daß man dann auch mit anderen Medien - wie z.B. Sprechen oder sich Reflektieren oder Ratschläge erteilen oder Bilder darüber sich zustellen - zu dieser Sache überhaupt sich verhalten kann. Deshalb bleibt für mich das Aufschreibesystem 2000 der Struktur nach eigentlich mehr in diesen kleinen Transistoren und Kondensatoren verankert, auf denen die CPUs und die Speicherchips beruhen.

Das Internet ist eine Art von, ja, Emanation scheint mir kein schlechtes Bild zu sein: so wie im Neuplatonismus eben das unbekannte hen, das Eine, das sich auch nicht zeigte, genausowenig, wie sich das Innere eines Siliziumschips heutzutage zeigt, wie sich das eben dann durch viele Archonten und etwas fleischlichere Wesen nach außen hin verbreitet, so verbreitet sich diese Mikrotechnologie, die auf einen Daumennagel paßt, durchs Internet über die ganze Welt. Wobei der Ausdruck "ganze Welt" natürlich immer ein bißchen euphemistisch ist, wenn man die Verteilungsgeographien sich anschaut, dann stellt man fest, daß 80% USA sind, und der Rest der Welt weiter, wie im Kolonialismus einst, als terra incognita funktioniert.

TPJ: Im Internet ist man sein eigener Autor, Verleger, Lektor etc, - verändern sich dadurch die Machtstrukturen im Literatursystem, oder ist das nur eine Vision, die die Befürworter in den Raum stellen, schaut mal, deswegen müssen wir das vorantreiben?

Kittler: Ich sitze jetzt zufällig in einer Bonner Kommission, die sich darüber quält, und zwar im Namen der deutschen Wissenschaft, der DFG. Es scheint eine rein juristische, politische und ökonomische Frage zu sein, wo man sich hüten sollte, Utopien zu entwickeln, sondern wo man schauen muß, was juristisch durchsetzbar ist. Natürlich ist man im Herzen immer für copy left und für all das, was Sie angedeutet haben; ob es durchsetzbar ist, wird ein reiner Machtkampf werden. Die Verlage wehren sich mit Händen und Füßen, und andererseits wissen sie, daß sie, wenn sie nicht selber einen Fuß in die elektronischen Systeme und Netze bekommen, daß sie dann sehr bald altmodisch dastehen werden. Es wird einen Krieg geben um die Daten des Buches, so wie es den Krieg um die Daten des alten guten Spielfilms heute in den Tagen von Leo Kirch und den Fernsehanstalten schon gibt. Und wir wissen von Leo Kirch und den Fernsehanstalten, daß die faktische Lösung ein verdammter fauler Kompromiß ist, und das wird wahrscheinlich auch im Medium Publizistik so ähnlich auf uns zukommen, leider. Zumindestens für die Zwecke der Freiheit der Wissenschaft, wie es so schön heißt, zumindest in Bonn, sollte man sehr drauf achten, daß die Dinge so liberal wie möglich gelöst werden. Die ACM, die association of computer manufacturing, hat jetzt angeblich ein sehr schönes Papier vorgelegt, das juristisch zum ersten Mal vernünftige Vorschläge macht. Bei allen Sachen, heißt es dort als Vorschlag, die auf den Netzen sind, ist die Lektüre kostenlos, und was kostet, ist nur das physikalische Printout. Wenn diese Lösung durchsetzbar wäre, dann sähe es wirklich schlecht um die Machtsysteme der Verlage aus, und dann wäre eine neue Souveränität derer, die schreiben und lesen, erreicht - sagen wir es einmal so.

TPJ: Das Internet wurde ja wesentlich durch das Militär entwickelt- glauben Sie, daß durch die Struktur des Netzes - daß z.B. Anarchie möglich wird - daß die Erfindung sich nun gegen die Erfinder richtet, oder ist das nur Teil einer größeren Strategie?

Kittler: Es ist schon erstaunlich, wie falsche Geschichten über die Entstehung heutzutage im Umlauf sind, und es ist sehr schön, daß Sie daran erinnern, daß es eben das Problem der Dezentralisierung der amerikanischen Atomkriegszentralen angesichts des drohenden elektromagnetischen Impulses war, die zu dieser Internetstreuung geführt hat. Die Freigabe hat sich, glaube ich, bis jetzt nicht direkt wie ein revolutionärer Aufständischer gegen die Erfinder gelöst, sondern es war interessant, daß in diesen amerikanischen Kommandostrukturen, sofern sie High-Tech-Kommandostrukturen waren, die führenden fünf Universitäten, also Stanford, MIT usw., immer schon impliziert waren. Die amerikanische Luftwaffe konnte anscheinend keinen Krieg ohne ihre Think-Tanks führen, und so sind die Universitäten ins Netz gekommmen. Und dann hat sich das von den Professoren und den paar Informatikern langsam bis zum Rest der Studentenschaft nach unten entwickelt. Das ist zwar schon ein Demokratisierungsprozeß, aber ich denke, solange die Verschlüsselungscodes, die erlaubten, noch immer so kontrolliert sind, daß sie von der NSA im Prinzip geknackt werden können, stellt das in meinen Augen so etwas wie eine Balance der Macht her. Also einerseits natürlich Anarchie und Liberalisierung, auf der anderen Seite aber die Möglichkeit eines sehr sehr guten Zugriffes von seiten der amerikanischen Abhöhrbehörden, die es viel schwerer hätten, wenn eine Mannigfaltigkeit von Geheimbotschaften durch die Länder zirkulieren würden. Stellen Sie sich vor, die Drogenbarone würden wie einst in den guten alten Zeiten tote Briefkästen in Baumästen oder soweiter einrichten; das ist doch verdammt schwer für das FBI, erstmal diesen Ast zu finden. Die bei der NSA, der national security agency, gehen mit Gewißheit davon aus, daß die Drogenbarone natürlich übers Internet kommunizieren, und damit sind sie dann auch zu fangen. Die Fangschaltungen funktionieren ja ziemlich gut - man kann key- words eingeben, und dann einfach auf bestimmte Schüsselwörter hin sofort nachfragen und das dann heraussieben, was an Nachricht, an heißer, da ist. Ich glaube sowieso nicht, daß es langfristig derartige Nicht-Balanciertheiten des Verhältnisses von Macht und Gegenmacht gibt - das könnte ja nur zur sofortigen Katastrophe führen.

TPJ: Kommen durch die Möglichkeiten des Internets die alten Ziele der Aufklärung wieder: Demokratie, Öffentlichkeit, Partizipation ?

Kittler: Wenn wir jetzt gerade beim Militär und Internet sind: Diese Aufklärungsideologie stammt ja nicht aus der Aufklärung, sondern die stammt weitgehend von Jürgen Habermas, der das Buch über dieses Thema bekanntlich geschrieben hat, "Strukturwandel der Öffentlichkeit", und man muß zuerst mal etwas über dieses Buch sagen. Dieses Buch geht ja davon aus, daß die damals eingeführte Privatpost diesen ganzen Prozeß in Gang gebracht hat; was Habermas völlig vergißt ob dieser intimen briefschreibenden verliebten Leute, die er alle so toll findet, weil die Bürgerlichkeit sich in ihnen konstituiert haben soll, ist schlicht dies, daß die Staaten diese Privatposten mit einer klaren Absicht gegründet haben, als gute merkantilistische Staaten: sie wollten nämlich das Porto davon abheben. Z.B. hat Preußen seinen erfolgreichen 7-jährigen Krieg gegen Österreich zu 40% aus den Posteinnahmen finanziert - soviel zur Funktion der Aufklärung oder der Partizipation im 18. Jahrhundert.

Ich bleibe nochmal bei dem Beispiel 18. Jahrhundert, weil ich vor vier Monaten einen sehr bekannten deutschen Postmoderne- Philosophen, dessen Namen ich jetzt im Unterschied zu dem Namen Habermas nicht nennen möchte, folgende Behauptung habe aufstellen hören - in meinen Ohren - : es sei dieses Internet zum ersten Mal nicht diskriminierend für die Teilnehmer, weil nämlich z.B. auch ein an allen zehn Füssen und zwanzig Armen verkrüppelter häßlicher Hispano in San Francisco an diesem kommunitären Netzwerk sich beteiligen kann, ohne seine körperlichen Gebresten bekannt geben zu müssen. Und da habe ich wirklich diesen bekannten Philosophen fragen müssen, ob das für den guten alten Privatbrief des 18. Jahrhunderts nicht auch schon genauso gegolten hat. Die Absenz des Körpers im Briefverkehr ist eigentlich die Definition des Briefverkehrs, seit es einen gibt. Da nun zu behaupten, daß das Internet irgendeine moralisch neue Qualität hineinbringt, verstehe ich nicht, sondern das wichtige ist nur der Zeitfaktor, der Echtzeitfaktor, das, was ich vorhin Emergency nannte, daß Aktionen sehr sehr viel schneller, und das heißt eben manchmal auch sehr viel hilfreicher und partizipatorischer gemacht werden können, weil die Totzeiten gegen Null gebracht werden können.

TPJ: Im Zusammenhang mit dem Telepolis-Projekt und ihrem Aufsatz "Die Stadt ist ein Medium" möchte ich zum Schluß fragen, ob für Sie die Stadt mehr ist, als eine bloße Metapher für Netzorganisationen, oder ob das Verhältnis von Stadt und Internet tiefgehender ist?

Kittler: Das kann man nicht aus der Pistole so beantworten. Als ich diesen Artikel schrieb, habe ich einen Artikel von einem Architekturtheoretiker names Alexander aus Berkeley gelesen, und das war eigentlich das beste, was ich zu dem Thema gelesen hatte. Er hat versucht klar zu machen - es gibt ja in der mathematischen Theorie, und das darf man nie vergessen, verschiedene Netztopologien: es gibt den Stern, es gibt den Baum, es gibt Hyperbäume und es gibt schlichte Wurzeln usw., und die Frage ist immer, was für ein Netz man will und man meint - und Alexander hat z.B. ziemlich überzeugend argumentiert, daß diese baumartigen Strukturen, nach denen die moderne Urbanistik seit den 20ger Jahren ihre Satelittenstädte aufgezogen hat - also eine Hauptverkehrsader, die in die Satelittenstadt hineinführt, dann Äste, die abzweigen, funktional differenziert, der eine Ast geht mehr zur Wohngegend, der andere Ast geht mehr zur Verbrauchergegend, zur Einkaufsgegend - daß das Mord an der Stadt ist und Mord am Netz, also Mord an der Bevölkerung, weil die Stadt ein nicht plättbarer Graph ist, wie er sich so schön ausdrückt, im Unterschied zum Baum, der einfach auf der Fläche abgebildet werden kann und eine Hierarchie bildet. Letztlich muß eine Stadt ihre verschiedenen Funktionen an dieselben Stellen hinbringen und muß also 1000 verschiedene Netztopologien, in unterschiedlichen Medienhinsichten sozusagen, auf ihre geographische Fläche projezieren, so daß überall Kreuzungen entstehen zwischen den verschiedenen Teilnetzen wie S-Bahn, U- Bahn, Telephon usw.. Das Internet ist trotz seiner exponentiellen Wachstumsraten bis jetzt, glaube ich, noch nicht so wie die Stadt ein richtig strenges Multimediasystem - also Multimedia sicherlich jetzt in dem Sinne, den wir behandelt haben, daß Graphik und Wavedaten usw. hineingehören. Es ist ja nicht so, daß das Internet zugleich den Zugriff auf die weltweite Sattelitenkommunikation und all das andere, was noch nebenher elektronisch läuft, ermöglicht. - Das wäre eigentlich das rasantere Modell, daß die verschiedenen elektronischen Datenströme, von denen das Internet bestimmt bislang nur ein Teil ist, miteinander so verschaltet, verkreuzt würden, daß an den Kreuzungspunkten Umsteigemöglichkeiten bestünden, wie in der Stadt eben diese Umsteigemöglichkeiten bestehen.

TPJ: Dann wäre es eine gleiche Funktionsweise der Stadt und des Netztes?

Kittler: Ja, ich denke schon, ich weiß nur nicht, ob die Stadt immer das Modell bleiben würde. Im Moment schicken sich ja sozusagen die elektronischen Implementierungen von Netzen an, das für die neolithische Revolution tragende Modell der Stadt langsam zu relativieren. Wenn man sich Städte vorstellt, die nicht nur elektronisch vernetzt sind wie Amsterdam, dank den Anstrengungen von Geert Lovink oder München eben , sondern wenn man sich Systeme vorstellt, in denen die elektronischen Netze, meinetwegen die Verkehrsampel und die Verkehrsflußdichte- Berechnungen, alle irgendwo in Computernetzen gemacht werden - und die Stadt mit ihren Ampelsystemen und Bahnhöfen ist da nur eine abhängige Variable des Netzes, das sie elektronisch trägt - dann wird vielleicht die Stadt aufhören, das komplexeste Modell eines Neztes zu sein, das Menschen kennen. Daß die Mathematiker immer noch komplexere Netze kennen, als die Menschen je erfahren haben, daß wollen wir den Mathematikern zugute halten.

TPJ im Gespräch mit Friedrich A. Kittler: 1.8.1995.
Im Journal befindet sich auch ein Essay von Friedrich A. Kitteler.


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