TPJ: Glauben Sie, daß das Internet eine besondere Rolle im
theoretischen und kulturellen Fortschritt der Gesellschaften
spielt? Friedrich Kittler hat im letzten Interview gesagt, daß
das Internet verglichen mit dem Computer keine besondere
Qualität hat, weil es Computer ohne Internet gäbe, aber kein
Internet ohne Computer. Poster: Da bin ich anderer Meinung. Ich denke, daß die vernetzten Computer viel mehr sind als einzelne Computer. Ich denke, daß die Kommunikationseinrichtungen im Internet große Entwicklungsmöglichkeiten beinhalten, weil es ein dezentrales System ist, weil es die Raum/Zeit-Konfiguration von kommunizierenden Individuen verändert; es verändert die Körper/Geist-Beziehung von kommunizierenden Individuen, es verändert die sozialen Merkmale von Individuen, indem es Erscheinung, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit in Tippgeschwindigkeit, geistige Fähigkeit, Wortgewandtheit umorganisiert und auf diese Weise unterschiedliche Hierarchien aus menschlichen Potentialen macht. Natürlich bleibt es im Moment ein sehr kleiner Teil des Kommunikationsraums, aber ich denke, daß das Prinzip und die Struktur seiner Vernetzung und seiner dezentralen Eigenschaften das Potential enthalten, um sehr signifikante kulturelle Anwendungen zu finden - sollte es weiter verbreitet sein. TPJ: In Ihrem Essay "Postmodern Virtualities" sprechen Sie von der Kultivierung neuer Konfigurationen von Individualität durch die neuen Medien. Könnten Sie solche neuen Konfigurationen illustrieren? Poster: Ich stamme aus intellektuellen Traditionen, die Individuen verstehen als in diskursiven Praktiken konstituiert (z.B. Foucault, Poststrukturalismus), so daß das Individuum kein natürliches Wesen ist, nicht im Bewußtsein gründet, sondern in Formen der Interaktion gegeben ist, die in Sprache und Handlung vorkommen; und ich denke, daß das Internet die Struktur dieser Interaktionen neu konfiguriert. Vor allem glaube ich, daß in den meisten Gesellschaften eines der wesentlichen Merkmale der Art und Weise, wie Individuen konstituiert werden, dieses ist, den Individuen die Bedeutung zu geben, daß ihr Charakter natürlich oder fixiert sei. Und die besondere Veränderung, die mit dem Internet auftritt ist die, daß die Erfahrung der Identität, die Erfahrung der eigenen Selbst-Präsentation und der eigenen Individualität so strukturiert ist, wie sie konstruiert wird, so daß in die Struktur der Kommunikation eine Referentialität eingebaut ist. Das kann ganz einfach an solchen Dingen illustriert werden, wie daß man in manchen Internet-Konfigurationen seinen Namen bestimmen muß und sein Geschlecht bestimmen muß TPJ: Aber gibt es nicht in der Internet-Kommunikation einen Verlust an Wahrhaftigkeit in den persönlichen Beziehungen, wenn man sich erfinden kann, wie man möchte? Sie haben in Ihrem Essay "Cyberdemocracy" den Fall von Joan/Alex erwähnt. Poster: Worum es hier geht, ist die Tatsache, daß es immer die Frage nach Wahrhaftigkeit in persönlichen Beziehungen gibt, daß wir nie wirklich die Wahrheit über den anderen wissen - vielleicht nicht einmal über uns selbst -, aber daß in der Kommunikationspraxis im Internet Beziehungen enstehen und fortgeführt werden, und daß es in den Begriffen dieser Beziehungen eine andere Art von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit gibt, eine andere Art von Verantwortung und Unverantwortlichkeit, eine andere Art von Wahrheit über einen selbst und Unwahrheit über einen selbst, als die, der man in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht begegnet. Und das war es, was ich in dem Beispiel in dem Essay von dem berühmten Fall von Joan, die eigentlich der Psychologe Alex war, gegeben habe, daß, als entdeckt wurde, daß Joan eigentlich Alex war, der Schmerz, der von vielen der Teilnehmern, den anderen Frauen in dem MOO oder dem elektronischen Cafe, empfunden wurde, den Verlust von Joan betraf und nicht so sehr die Tatsache, daß Alex sie getäuscht hatte. Sie kannten Alex nicht, alles was sie kannten war Joan. TPJ: Aber das Internet ist nicht das einzige Kommunikationssystem.... Poster: Das Internet ist nicht das einzige Kommunikationssystem, es ist in alle anderen eingebettet, und m.E. wird dies eines der interessanten Probleme sein - sollte das Internet viel verbreiteter sein - wie Individuen im Internet und in anderen Kommunkationsarten ihre kulturellen und sozialen Persönlichkeiten ein- und ausschalten. Wir tun das die ganze Zeit, insofern, daß wir Eltern sind oder Kinder oder Lehrer oder Bosse oder Arbeiter oder Fußgänger, die mit Autos konfontiert sind, wir sind sehr mobil und weben diese Mobilität ein in die Fiktion eines fortdauernden Selbst. Das allerdings ist, finde ich, ein stäkerer Bruch zwischen dem elektronischen Selbst und dem Selbst des unmittelbaren Gegenübers. TPJ: Weil es einfacher ist, zwischen den Identitäten umzuschalten? Poster: Vielleicht, es gibt da weniger Widerstand. Wenn ich ein Charakter namens Alice bin und mich in einer Position hinsichtlich meiner Beziehungen zu den anderen in der Guppe befinde, die ich nicht mehr mag, kann ich meine Identität wechseln und Alice verschwindet, ich kann eine Henrietta oder ein Henry werden. TPJ: Welche Rolle spielt die Interaktivität bei der Subjekt- Konstitution? Wird sie nicht überschätzt? Poster: Wenn Sie eine realistische Wahrnehmung davon haben, also daß es da ein wirkliches Individuum gibt, das an einer Tastatur vor einem Monitor an einem Punkt sitzt, und ein anderes an einem anderen Punkt, und diese beiden Individuen tippen Sätze in ihren Computer, dann ist die Interaktivität fast gleich null. Aber wenn Sie auf die Schnittstelle schauen, wenn Sie in den Bildschirm schauen, wo die Konversation, sagen wir im chat-mode, in Echt-Zeit stattfindet, sind die Individuen in ihrer Konversation aufgegangen und die Interaktion ist ganz anders, aber sehr intensiv. Besonders in der MOO-Form gehen die Dinge sehr schnell und es ist die ersten paar Male, wo Sie es tun, recht irritierend, aber es ist auch völlig vereinnahmend. Sie sind in dieser Unterhaltung und es bedarf einer unglaublichen Menge an Aufmerksamkeit, den Fluß der Konversation aufrecht zu erhalten. Daher könnte man sagen, daß es eine dichtere, eine reichere Interaktion ist, als, sagen wir, die Interaktion einer Familie beim Abendbrot, wo die Leute zerstreut sind und vielleicht der Fernseher an ist und die Leute nicht wirklich aufpassen oder einander zuhören. TPJ: Ich würde gerne auf die politischen Implikationen des Internet zu sprechen kommen. Man könnte denken, daß die alten Ideale der Aufklärung durch den Gebrauch des Internet zurückkehren - Partizipation, Zugang für jeden zu jeder Information, Diskussionen von Tausenden und mehr - ist das nicht ein Comeback der Aufklärung? Poster: Das ist eine schwierige Frage. Ist das Potential des Internets Demokratie oder Emanzipation in dem Sinn, den Sie angedeutet haben? Ich bin nicht sicher, ob Demokratie das richtige Wort dafür ist, weil es eine so radikale Neustrukturierung von Raum und Zeit, der Beziehung von Geist und Körper und der Beziehung von Mensch und Maschine ist und die Schnittstelle zwischen den teilnehmenden Individuen so unterschiedlich ist, daß ich da so meine Zweifel habe. Ich frage mich nach dem Ausmaß, in dem der Begriff Demokratie selbst in einer Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht verwurzelt ist und daß von der repräsentativen Funktion immer erhofft wurde, daß sie transparent sei, ob die Representation im Druck, in den Zeitungen oder in den politischen Personen einer Regierung stattfindet. Ich denke, es hat in der Demokratie immer diesen Sinn von einer verkörperten Gemeinschaft gegeben, der von der alten Agora und dem neu- englischen Rathaus herstammt, und in Deutschland, denke ich, von den Lagerfeuern - wir haben alle unsere Geschichten darüber. Und ich frage mich, ob diese Art von breiter Teilnahme, wie sie das Internet ermöglicht, immer noch in Beziehung zu etwas gedacht werden kann, das wir als Demokratie kennengelernt habe. Ich bin mir da nicht sicher. TPJ: Die Machtverhältnisse ändern sich durch das Internet, die Monopole der Information werden abgeschafft. Poster: Die Dezentralisierung der Produktion und Verteilung von Information ist, glaube ich, bestimmt sehr wichtig. Die Rezeption bleibt so weit verbreitet wie beim Rundfunk. Aber diese Veränderung ist, denke ich, sehr wichtig beim Einfluß auf die Bildung einer Kultur und möglicherweise im politischen Leben. Ich würde gerne denken, daß das zur Bildung von Individuen führt, die aktiver in der Herstellung von Kultur sind und daher entschlossener sind, an der Demokratie teilzunehmen. Ich weiß nicht, wie diese Bereiche sich ineinander übersetzen lassen, die der Medien und des Reichs sozialer und kultureller Kommunikation, wie sie in politischen Prozessen angenommen wird. Vielleicht verändern sich politiche Prozesse in einer Weise, die wir nicht eimal vorhersehen können. Sicher gibt es nicht nur eine Demokratisierung der Produktion und Verteilung von Information im Internet, sondern es gibt auch eine tiefe Bedrohung für den Nationalstaat, weil die Grenzen des Nationalstaates im Internet überhaupt nichts bedeuten. Also gibt es eine direkte Herausforderung von existierenden politischen Institutionen auf der Ebene eines Nationalstaats, ob der demokratisch oder autoritär ist. Auf einer anderen Ebene entsteht die Frage nach dem US- Imperialismus im Internet; die Tatsache, daß es in den Vereinigten Staaten angefangen hat, hat zur Normalisierung von Englisch als Internet-Sprache geführt. Ist das eine weitere Ausweitung des westlichen Imperialismus? Es gibt andere Fragen, die im Verlauf der nächsten Dekaden beantwortet werden. TPJ: Die Leute sprechen von einer neuen Ethik durch das Internet, weil niemand weiß, wer wirklich spricht. Aber ist das nicht dasselbe mit dem gewöhnlichen Privatbrief? Das jedenfalls hat Friedrich Kittler gesagt: das Internet ist eine Verbesserung des Postsystems. Poster: Da bin ich anderer Meinung. Sicherlich, in einem instrumentellen und rationalen Rahmen ist der Unterschied zwischen einem Brief und E-Mail der, daß der elektronische Brief schneller ist. Aber da ist die Frage: Ist er wirklich schneller? Als ich z.B. zum Flughafen in Kalifornien kam, um zum tcs-Kongreß in Berlin zu fliegen, stellte ich fest, daß der Flug, den ich von Düsseldorf nach Berlin hatte, gestrichen war, und daß ich einen späteren Flug hatte. Der Organisator der Konferenz sollte mich abholen; also habe ich ihn zuerst angerufen und er nahm nicht ab. Dann habe ich einen Freund von mir in Los Angeles angerufen, und ließ ihn dem Organisator in England eine E-Mail schicken, daß ich später kommen würde, weil ich dachte, daß die Geschwindigkeit der E-Mail- Übertragung mir eine erfolgreiche Kommunikation mit ihm ermöglichen würde. Am Flughafen in Berlin war er nicht da. Ich habe später herausgefunden, daß er die E-Mail nicht bekommen hat, bevor ich am folgenden Tag der E-Mail um vier Uhr nachmittags angekommen bin. Er hat die E-Mail nicht vor sechs Uhr abends am folgenden Tag bekommen. Mit anderen Worten: Die E-Mail kommt an, nur, kommt sie an, wenn sie auf deinem Zugangscomputer ist, oder wenn du auf sie schaust? Ich denke, daß der wahre Kontrast nicht der zwischen Post und E-Mail ist, sondern zwischen Telephon und E-Mail, weil die meisten Leute über E-Mail Dinge kommunizieren, über die sie normalerweise mit anderen Leuten telephonieren würden. Und wenn Sie die Ethik des Telephons mit der Ethik der E-Mail vergleichen, ist die Ethik der E-Mail sicherlich verschieden und höherwertig, in dem Sinn, daß sie weniger aufdringlich ist. Es ist wahr, daß das Telephon klingelt und Sie nicht antworten müssen, dafür haben wir Anrufbeantworter, aber diejenigen unter uns, die schon vor Anrufbeantwortern lebten, fühlen sich dem Telephon verpflichtet zu antworten, in einer Weise, in der E-Mail nicht auf die Individuen einwirkt. Das ist ein Unterschied. Ein anderer Unterschied ist der, daß es durch Studien von Sozialpsychologen wohlbekannt ist, daß Leute beim Schreiben von E-Mail dazu tendieren, bestimmte Verhaltensweisen anzunehmen, die vom Briefeschreiben oder sogar vom Telephonieren verschieden sind. Sie tendieren dazu, spontaner zu sein, offener, weniger zurückhaltend in ihrer Kommunikation. Also das ist eine objektive, wissenschaftlich qualifizierte Tatsache, daß das Medium diese Art von Unterschied produziert. Ich denke, daß die Form anders ist, ich denke, daß die Schnittstelle nicht dieselbe ist wie die materielle Schnittstelle von Stift und Papier, und ich denke, daß das Individuum daher durch eine andere Ontologie strukturiert wird, als bei der materiellen Einschreibung mit Stift und Papier. Die elektronische Materialität ist ganz anders, so daß es einen ontologischen wie einen ethischen Unterschied zwischen dem Bereich der E-Mail und dem Versenden von Briefen gibt. TPJ: Aber was ist wirklich die neue ethische Dimension des Internet? Wo liegt die neue Qualität des Internet für die Ethik? Auf der einen Seite gibt es die Netiquette, auf der anderen Seite die Möglichkeit der Lüge. Poster: Ich glaube, daß es neue Probleme der Kommunikation gibt, weil die E-Mail rein textuell ist, im Moment. Das Problem der Kontextes ist sicherlich ganz anders als bei der Rede und bei den Traditionen des Briefeschreibens. Bei der Intonation der Stimme als eine Art, Sätze einzubetten, hat die Netiquette versucht, mit Smilies und allen anderen ikonischen Formen die offensichtliche Dünne der Kommunikation anzureichern. Wenn Sie im chat-mode kommunizieren, gibt es verschiedene Netiquette-Funktionen, die involviert sind, wenn Sie in Gemeinschaft mit Leuten sind, tauchen verschiedene moralische Punkte auf. So ergeben sich unterschiedliche Weisen von richtigem Verhalten im Kommunikationsprozeß. Die Frage, ob man lügt oder nicht, ist eine falsche Frage, weil sie immer da ist. Die Tatsache, daß mein Gesicht oder meine Stimme nicht da sind, ist nur eine verschiedene Struktur von Lüge und Nicht- Lüge. Manche Menschen sind sehr geschickt darin, durch ihren Gesichtsausdruck zu täuschen. TPJ: Die Stadt ist zu einer prominenten Metapher für Internet- Organisationen geworden. Glauben Sie, daß die Stadt nur eine Metapher für Internet-Organisationen ist, oder ob es da einen tieferen Zusammenhang zwischen Stadt und Internet gibt?
Poster: Das ist eine so komplizierte und faszinierende Frage,
daß ich nur anfangen kann, darüber nachzudenken. Auf dem tcs-
Kongreß hat Richard Sennett über die Frage nach einer Politik
des Fremden gesprochen, und daß die Stadt immer der Ort des
Fremden war. Wie man von einem Dorf annimmt, daß jeder jeden
kennt, war die Stadt der Ort, wo man einen Fremden treffen
konnte. Und sicher ist nichts fremder als die Fremden, die man
im Internet trifft, in dem Sinn, daß sie da nur Geister sind,
daß sie nur schreiben. Also gibt es einen Sinn, in welchem das
Internet das Prinzip des Treffens von Fremden erweitert, das
eine der Hauptcharakteristiken der Stadt gewesen ist, genauso
wie es die Teledimension von Schreiben und Drucken durch seine
elektronische Form erweitert, wie man sie von der mündlichen
Rede annimmt. Interview vom 14.8.1995
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