Jürgen Riehle

Content.com: Schattenverlag mit Großmachtplänen



"Die Menschen, die das Internet nutzen, sind Leser", sagt David Bunnell. Interaktion im Netz ist mehr oder weniger Lesen und Schreiben. Buchverlage müßten hier also eine echte Chance haben.

Bunnell, in den 60er Jahren in der US-Studentenbewegung aktiv und heute Chef des Fachblatts New Media, will diese Chance nutzen. Zusammen mit dem literarischen Agenten und früheren Popkunst-Impresario John Brockman hat er eine Firma namens Content.com gegründet, deren erstes Projekt eine World Wide Web-Site namens BookChannel ist. Bislang existiert die Site nur als Konzept; am 1. September will Content.com in Zusammenarbeit mit mehreren Buchverlagen aber sofort mit der Entwicklung von Content beginnen. Doch schon jetzt spricht die Marketing-Broschüre vom BookChannel als erster "Killer App" des Internet.

Bunnell und Brockman beschreiben ihre Web-Site als virtuellen Basar für Bücherliebhaber. Das ist ganz wörtlich zu nehmen: Der "Basar", in den der Web-Surfer "eintritt" soll als 3-D-Bild auf dem Bildschirm erscheinen.

Möglich ist dies dank der neuen Programmiersprache VRML, einer graphischen Erweiterung des Web-Standards HTML. Die User sollen im BookChannel-Basar ähnlich wie im CD-Spiel Myst durch einen simulierten Raum navigieren, der sich wiederum in individuelle Verlags-Sites aufteilt. Anschaulicher ausgedrückt bietet Content.com eine digitale Großimmobilie, in der sich Verlage mit ihren Cyber-Filialen einmieten können (Preis: 25.000 Dollar für das neun Monate laufende Pilotprogramm). In diesen wird es dann Kataloge und Leseproben, Video Autorenlesungen und Interviews, Buchtips und natürlich die Möglichkeit zur Direktbestellung geben.

Mit einer derart banalen Beschreibung will sich Content.com allerdings nicht zufriedengeben. Denn mit dem "Content" im Firmenamen ist zwar einerseits der Inhalt von Büchern gemeint, aber andererseits doch wieder nicht.

Was ist "Content"? In der Definition von Content.com’s Beraterkomitee, zu dem Vordenker wie Marvin Minsky und Clifford Stoll gehören, nicht einfach Worte und Bilder, die auf dem Bildschirm präsentiert werden. Nein: Content ist Kontext. Content ist Aktivität. Content ist Beziehung. Content ist nicht Text oder Bilder im Unterschied zu den interaktiven Komponenten, die den Zugriff auf sie ermöglichen; Content ist die interaktive Qualität.

Content ist ein Verb, kein Substantiv. Content ist etwas, das im Interaktionsfeld zwischen Denkenden oder Objekten oder anderen Informationen passiert. Content ist ein fortlaufender Prozeß ... eine Region, die viele wechselnde Merkmale und Eigenschaften hat, die von der Beziehung zwischen Sender und Empfänger, der Tiefe ihrer Interaktivität abhängen. (Auszug aus Content.com’s Info-Material) Hier geht es anscheinend um Grundsätzlicheres als Teleshopping. Content, so teilen uns die Verfasser mit, lasse sich nicht in Material und Medium scheiden, und erinnern damit absichtlich oder nicht an die berühmte Zeile aus Yeats’ Gedicht Among School Children : "How can we know the dancer from the dance?" In der Tat: Hesselbach und Fernsehen lassen sich ebenso schlecht auseinanderdividieren wie Ben Hur und Kino oder ein Pollock Gemälde und sein stoffliches Mittel. Bücher, um die es bei BookChannel doch zuvörderst gehen sollte, und das World Wide Web kann man freilich ganz problemlos voneinander trennen.

Die Content-Rhetorik schmückt und verhüllt also, was das Unternehmen eigentlich verkauft, nämlich einen Service. Das spricht auch der Marketing-Text am Ende aus: ”Intellektuelle Prozesse und Services gewinnen an Wert; intellektuelles Eigentum verliert an Wert.

Dieser Service läßt sich wie oben angedeutet mit dem eines Immoblienunternehmens vergleichen: Content.com baut mit dem BookChannel ein Einkaufszentrum, das intensiv an die Öffentlichkeit vermarktet wird. Die Pächter finden hier nicht nur eine funktionierende Infrastruktur (Web-Technologie), sondern auch Hilfe bei der Einrichtung und Gestaltung ihrer (digitalen) Geschäfte. Am Eingang des Basars ist eine Infostelle, die dem Kunden mitteilt, wo er was finden kann. Statt ziellos in der Stadt (dem Web) herumzuwandern, um das Geschäft mit der gewünschten Ware (die Verlags-Web-Site mit den richtigen Büchern) zu finden, parkt er beim BookChannel, fragt, wo er was bekommt, und wird auf den richtigen Weg geschickt. Wenn er nicht genau weiß, was er will, kann er durch die virtuelle Shopping Mall schlendern und dabei ihre Werbebotschaften aufnehmen - Buchleser stellen eine attraktive Zielgruppe für Werbetreibende dar. Der BookChannel soll daher auch als hypermediale Litfaßsäule Geld einfahren. Um ihre Eigenidentität und Attraktivität zu stärken, organisieren Megamalls wie die "Mall of America" zudem Starauftritte, Konzerte, Lesungen, Autogrammstunden usw. - Content.com.’s Chairman John Brockman, der schon in den 60er Jahren Ereignisse wie Warhols "Exploding Plastic Inevitable" mitorganisierte, soll dank seiner umfangreichen Kontakte zur Literatur- und Kunstszene Ähnliches für den BookChannel leisten.

Das Modell macht in vieler Hinsicht Sinn: Verlage, die ihre Bücher ja auch nicht in Exklusivgeschäften, sondern im allgemeinen Buchhandel verkaufen, eröffnen in wachsender Zahl hauseigene Web-Sites. Houghton Mifflin hat erst vor wenigen Wochen eine Cyber-Filiale lanciert ; Bantam Doubleday Dell, Harper Collins, Penguin USA, Workman Publishing und Distributed Art Publishers wollen in Kürze nachziehen.

Die meisten Leser reagieren jedoch nicht auf Verlags-, sondern auf Autorennamen, Buchtitel und -themen. Wer den neuen Eco kaufen will, geht nicht zu Harcourt Brace Jovanovich sondern zu Barnes & Noble (eine Buchhandelskette, deren ”Superstores” mit ihren Cafés und regelmäßigen Lesungen mittlerweile auch soziale Brennpunkte sind). Diese Dynamik, in den grenzenlosen virtuellen Raum umgesetzt, will Content.com nicht nur im digitalen Buchgeschäft, sondern später auch in anderen Bereichen nutzen. So stellt die Strategieerklärung des Unternehmens die Entwicklung eines MovieChannel, eines MusicChannel, eines TheaterChannel und eines ArtChannel in Aussicht.

Bleibt die Frage, wie sich Literatur, wie wir sie aus Büchern kennen, im World Wide Web präsentieren kann. Auf einer Party anläßlich der Gründung von Content.com in New York gab es zwar noch keinen BookChannel-Prototypen zu sehen, aber dafür war der Schriftsteller Douglas Cooper geladen, seinen im Web publizierten Roman Delirium zu zeigen. Das Buch erscheint derzeit in Fortsetzungen in Time Warners Web-Service Pathfinder, und fällt vor allem durch das Layout des jungen Designers Barry Deck auf. Der Text ist Weiß auf Schwarz, Überschriften und Unterzeilen überlappen und verschmelzen mit Trennlinien, wie man es aus ästhetisch progressiven Magzinen wie Emigré oder RayGun kennt. Das sieht gut aus und ist ein weiterer Beitrag zur aktuellen Designer-Diskussion um die ultimative Bedeutung des Begriffs "Lesbarkeit". Wem gewöhnlicher Monitortext schon Probleme bereitet, wird in Delirium also nicht weit kommen. Wie im World Wide Web üblich, gibt es auch hier Hyperlinks, die uns allerdings nur zu anderen Bereichen des in konventionelle Kapitel und Unterkapitel aufgebauten Romans katapultieren. Kurz: die Computertechnik scheint kein essentieller Bestandteil der Textkomposition. Das Buch wird denn auch im Herbst, gedruckt, bei Hyperion erscheinen.

Einen radikaleren Versuch, das Internet als neuartige - und überlegene - Publikationsplattform zu verwenden, unternimmt Alternative X , eine literarische Web Site, die Ende 1994 von dem Schriftsteller Mark Amerika (The Kafka Chronicles) und dem Paperback-Verlag Black Ice Books gestartet wurde. Zwar bringt Alternative X neben Texten über ”Sex mit Gott” und andere postdadaistische Topoi auch Interviews mit erfolgreichen Schriftstellern wie Mark Leyner, doch der Herausgeber hat anderes im Sinn als neue Business-Systeme für die Kulturindustrie zu testen: Das Vertriebsmodell wird sich radikal ändern: Vom Modell Autor Agent-Verleger-Drucker-Großhandel-Einzelhandel-Verbraucher zum einfacheren und direkteren Modell Autor(Sender)-Interaktiver Teilnehmer (Empfänger), schreibt Amerika in seinem "AvantPop"- Manifest, und impliziert darin die Erwartung, daß die "riesigen Territorien des Cyberspace" zur Grabstätte von Vermittlungs-Unternehmen wie Content.com werden - und auf lange Sicht vielleicht auch den Massenmedien (die "Falsches Bewußtsein" produzieren) den Garaus machen.

Als Mediendenker macht Mark Amerika nicht viel her: Seine Theorien mutieren oft zu hysterischen Tiraden und bekommen überall dort weiche Knie, wo er Mitstreiter und Gewährsleute seiner Vision erkennt. So zählt er zu seiner "Avant-Pop"-Garde die Schriftsteller Mark Leyner, William Gibson, William Vollmann und Bruce Sterling, den Filmemacher Richard Linklater (Before Sunrise), und die Breeders-Sängerin Kim Deal - Celebrities mit coolem Image, die er wohl hauptsächlich durch die Vermittlung der konventionellen Massenmedien kennt (obgleich diese doch "falsches Bewußtsein" produzieren). Zweifelhaft bleibt auch, ob Amerika in jenen riesigen kybernetischen Territorien auf "Artaud, Lautreamont, Jarry, Rimbaud, Henry Miller, Gertrude Stein" gestoßen wäre, die er als kulturhistorische "Blutsverwandte" beansprucht.

Eine Reihe objektiver Tatsachen enthält seine Vision dennoch. Die Eliminierung unproduktiver Zwischeninstanzen in Kommunikation und Wirtschaft ist nicht mehr aufzuhalten. Unternehmen in aller Welt bemühen sich seit einiger Zeit um eine "flachere" Betriebsstruktur, aus der die Vermittlerfunktion des mittleren Management zunehmend entfällt. Die Online-Welt, die ja auch ein Vertriebssystem ist, ist strukturell von vorneherein auf Direktkommunikation ausgerichtet. Das macht einerseits die selektive und verifizierende Arbeit von Verlegern, Lektoren, Journalisten und Redakteuren wichtiger denn je - ungefilterte Informationsmassen sind viel mehr Masse als Information. Doch für Mittelsmänner wird es eng. Ein hypothetisches Szenario: Wenn unbekannte Schriftsteller ihre Texte im Netz veröffentlichen, und Verlage mittels digitaler Agenten prüft, welcher Jungautor die meisten "hits" oder "downloads" verzeichnet, dann wird die Luft dünn für Agenten aus Fleisch und Blut.

Wie passen Firmen wie Content.com in dieses Bild? Das hängt davon ab, worin ihr Service besteht: Wenn sie innovative Geschäftskonzepte entwickelt, um diese kreativ mit der vielversprechendsten Technologie, den besten human resources und dem besten Marketing zu kombinieren, dann könnte sie einen Zweck erfüllen. Das Informationsmaterial von Content.com spricht von einer solchen visionären, integrativen Funktion. In diesem Sinne prahlt die im März gegründete Firma, die außer einem hochkarätigen Beratergremium wenig Sichtbares vorzuweisen hat, sie sei "in der richtigen Position, das erste Mega-Unternehmen im digitalen Publishing zu werden." Mark Amerika ist nicht der einzige, der im Cyberspace, wo jeder User vom passiven Konsumenten zum Produzenten seiner eigenen kreativen Ware werden kann, die Antithese zu jeglicher medialer Machtkonzentration sieht.

Das wissende, ja tief vertraute Verhältnis zu den neuen Medien, das die Köpfe von Content.com als Hauptkapital anbieten, ist zudem nicht Festeigentum einer privilegierten, besser informierten oder smarteren Gruppe, sondern entwickelt sich heute in der Generation, die mit Fernsehen und Computer aufgewachsen ist. Bunnell und Brockman machen insofern Ansprüche auf eine Zukunft geltend, deren Gestalt sie aus einer prädigitalen Vergangenheit ableiten - sie dozieren über die neuen Medien, wollen diese aber für ältere Formen wie Bücher, Filme und Theater assimilieren.

Man wird den Verdacht nicht los, daß sie zwar über neuartige Inhalte sprechen, aber nur auf zeitgemäßere Formen von Werbung und Marketing zielen.

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