Es besteht eine andauernde Furcht, daß uns die elektronische Technologie unserer Menschlichkeit berauben könnte. Als Computer noch alleinstehende Maschinen waren, wie dies bei den meisten PCs vor zehn Jahren der Fall gewesen ist, war die Sorge, daß die Zuwendung zu diesen Maschinen die Individuen von ihren Familien und Freunden trennen könnte. Noch immer hört man diese Befürchtung, z.B. in Clifford Stills neuem Buch "Silicon Snake Oil". Jetzt, wo wir das Internet und Virtuelle Realität haben, gibt es eine ähnliche Sorge über die entmenschlichenden Wirkungen des Cyberspace: daß der Cyberspace uns vom "wirklichen Raum" als einer Plattform für menschliche Interaktion weglocken könnte; daß er uns beispielsweise aus dem materiellen und sozialen Raum unserer herkömmlichen Städte herausführen wird. Wird Telepolis wirklich zum Niedergang der Stadt und anderer traditioneller sozialer Strukturen führen?
Für einen Nordamerikaner ist diese Frage ironisch, weil amerikanische Städte seit Jahrzehnten ihren Niedergang erfahren haben. Dafür gibt es viele soziale und ökonomische Erklärungen. Wenn wir eine Technologie dafür verantwortlich machen wollen, dann wäre dies nicht der Computer, sondern das Auto. Die Flucht aus den Städten in die Vorstädte nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die schwindelerregende Zunahme an Autos und durch die Qualität der Autobahnen ermöglicht. Selbst heute setzt sich diese Flucht weiter fort, besonders in den metropolitanen Bereichen im Süden und Westen. Unter den Kommunikationstechnologien hat vielleicht auch das Telefon diese Flucht unterstützt, indem es die Möglichkeit eröffnete, aus der Entfernung in Kontakt mit Verwandten und Freunden zu bleiben. Der Computer scheint hier keinen großen Unterschied bewirkt zu haben. Seit Jahrzehnten haben Futurologen enthusiastisch das Telecommuting prophezeit, also den Einsatz von Computern, Telefonen und Faxmaschinen, um zuhause zu arbeiten. Jedoch hat nur ein kleiner Teil der Arbeitenden das Telecommuting übernommen, selbst in den USA, wo die Bedingungen dafür am geeignetsten erscheinen. Die Amerikaner scheinen es vorzuziehen, in Vorstädten zu leben und jeden Tag zweimal zwanzig oder dreißig Kilometer auf überfüllten Autobahnen zu fahren. Das Bedürfnis, am Arbeitsplatz körperlich anwesend und sozial aktiv zu sein, muß daher für Manager und Angestellte groß sein. Menschen wollen noch immer körperliche, nicht virtuelle Mobilität: sie wollen sich selbst von Ort zu Ort bewegen und sich nicht niederlassen, um elektronisch Worte und Ideen zu versenden. Vielleicht werden in Zukunft mehr Menschen mehr Menschen eine Telearbeitsplatz wünschen, wenn das Fax und die elektronische Pot durch Videokonferenzen ergänzt oder ersetzt werden. Wenn der Cyberspace visueller wird, wird er auch besser die wirkliche soziale Umgebung am Arbeitsplatz imitieren können. Aber genau das ist der Punkt: die Gebrauchsweisen des Cyberspace müssen erfolgreich die unseres gewöhnlichen materiellen Raumes spiegeln. Computertechnologie verändert nicht so sehr soziale Praktiken, sie entspricht ihnen. Die Entwicklung dieser Technologie ist in einer solch intimen Beziehung mit anderen kulturellen Kräften verbunden, daß es unmöglich ist, die Technologie als entscheidenden Faktor für jeden sozialen oder kulturellen Wandel herauszulösen. McLuhan beschrieb die Medien als Extensionen des menschlichen Körpers. Cyberspace als Medium ist nicht nur eine Extension des Körpers, sondern auch eine Extension des belebten Raumes von menschlichen Gemeinschaften, und er kann die verschiedenen sozialen Vorlieben spiegeln. Menschen können sich entscheiden, in dicht bevölkerten Städten zu leben und trotzdem am Cyberspace teilzuhaben; der elektronische Raum kann eine begrenzte räumliche Umgebung erträglich machen. Vielleicht werden die Japaner den Cyberspace für sich genau auf diese Weise ausbauen, indem sie ihn zu einer Extension ihrer verdichteten urbanen Korridore machen. Auf der anderen Seite können Menschen in Vorstädten leben und von zuhause aus am Cyberspace teilnehmen, wie dies viele Amerikaner heute machen. Oder sie können, wie es auch viele Amerikaner machen, zwischen einem Ort im Cyberspace an ihrem Arbeitsplatz (ein Kommunikationssystem eines Unternehmens) und einem anderen in ihren Wohnungen (American On Line oder Prodigy) pendeln. Daher kann der Cyberspace suburbane und exurbane Gegebenheiten, die japanischen Megastädte oder die europäische Kombination von großen und mittleren Städten spiegeln. Cyberspace muß nicht etwas Einheitliches sein, wie dies von der gegenwärtig geläufigen Metapher in den USA unterstellt wird: dem "information superhighway". Amerikaner haben diese Metapher aus dem einfachen Grund angenommen, weil die Superautobahn die physische und mythische Struktur ist, die ihren Lebensraum organisiert, der in dieser Hinsicht sich von dem jeder anderen Kultur auf dem Planeten unterscheidet.
Anders wie materielle Städte braucht kein Bereich des Cyberspace eine einzige und stabile Architektur. Die Architektur des Cyberspace variiert mit der Software, die man einsetzt, um seine Konturen aufzuzeichnen und zu untersuchen. Die Software kann den Raum so konfigurieren, daß die Sicht dunkel oder ganz deutlich ist. Zum Beispiel wird das Erscheinungsbild eines Internet-site durch den Browser bestimmt, den man verwendet, um die site zu besuchen. Eine Befehlszeile als ASCII Schnittstelle läßt die Daten linear und abstrakt werden. Ein graphischer Web-Browser kann das Verhältnis des Benutzers zur Information durch die Hervorhebung des bildlichen und hypertextuellen Charakters der Information verändern. Die Software zur Organisation und zur Suche kann verschiedene soziale Konstruktionen am selben Ort positionieren. Das sogenannte "World Wide Web" wurde im Internet zum bevorzugten Protokoll für die Konstruktion des Cyberspace. Das World Wide Web, ein unbegrenzt sich erstreckender Hypertext, ist populärer und einflußreicher als frühere hierarchische Systeme wie beispielsweise "gopher". Das WWW erzeugt für seine Benutzer eine assoziative, offene Struktur, und es diese Qualität des Cyberspace, die Nunberg an Venedig erinnert. Die Vorliebe für das WWW zeigt, wie wir den Cyberspace als eine Spiegelung unseres idealen kulturellen Raumes oder zumindest als Spiegelung des populärsten Ideals einrichten. (Die tiefreichende Neigung unserer Kultur zur Heterogenität bedeutet, daß auch Raum für solche Gruppen geschaffen wird, die Heterogenität zurückweisen.) Offensichtlich muß ein Computernetzwerk keine solche hypertextuelle Verschiedenartigkeit zulassen: es kann starr und hierarchisch gemacht werden. Manchmal hörte man Rufe, daß das Internet "organisiert" werden müßte, was bedeutet, mehr Kontrolle und eine klarere, eher hierarchische Struktur einzuführen. Der Trend jedoch scheint weiter dahin zu gehen, das Internet als Patchwork zu konstruieren, in dem Sites lokal organisiert und dann zu einem nicht organisierten, hoch assoziativen Ganzen zusammengefügt zu werden. Durch Protokolle wie das WWW und Schnittstellen wie Mosaic und Netscape bauen wir den Cyberspace als Ausarbeitung des Raumes, den wir in unserer Kultur überall bevorzugen. Einheitlichkeit, Einstimmigkeit und Reinheit sind jetzt kulturell suspekt. Die zeitgenössische Stadt kann nie heterogen genug sein, um sich neuen Bevölkerungsschichten oder alten im Prozeß der Redefinierung anzupassen. Dasselbe gilt für den Cyberspace.
Wichtige Werkzeuge zur Bildung von elektronischen Gemeinschaften sind die sogenannten MUDs der MOOs, gemeinsame Umgebungen für eine spontane Kommunikation. Benutzer tragen sich in einem Netzwerk ein und "betreten" das MUD. MUDs besitzen Räume oder andere räumliche Strukturen, und die Spieler versammeln sich in diesen Räumen, um miteinander zu sprechen oder zu interagieren. Ihre Gespräche und Interaktionen werden in Worten beschrieben, da MUDs gegenwärtig weder Grafiken noch Ton zulassen. Ein Spieler kann eine Frage tippen. Die Frage erscheint dann auf dem Bildschirm aller anderen Spieler, die sich gegenwärtig in diesem Raum aufhalten. Jemand antwortet, und seine Antwort erscheint auf allen Bildschirmen, auch auf dem, der zuerst gefragt hat. In Wirklichkeit arbeiten alle Spieler in einem Raum an einer fiktiven Prosa zusammen, an einer gemeinsamen Geschichte, deren Dialoge und Erzählung auf jedem ihrer Bildschirme herunterrollt. Sie nehmen auch an einer postmodernen Gemeinschaft teil, die nur so lange bestehen bleibt, so lange die Spieler daran interessiert bleiben, die Fiktion aufrechtzuerhalten. Wenn Spieler in einem MUD das Internet benutzen, um gemeinsam eine Fiktion herzustellen, so benutzen andere aus der Geschäftswelt die vernetzten Computer für praktischere Kooperationsformen. Elektronische Post und Memos, Kalender und Zeitpläne sowie Textdokumente, die gemeinsam bearbeitet werden können, sind Beispiele einer elektronisch vermittelten Zusammenarbeit. Wie die MUDs sind diese Programme noch alle mehr oder weniger textbasiert. Aber es gibt auch Experimente mit einer wahrnehmbar gemachten Zusammenarbeit in Form des interaktiven Video für Konferenzen und Planungs- und Entwurfsprozeßen in Gruppen. Ein neuer Bereich in der Computertechnologie, den man "Computer-Supported Collaborative Work" (CSCW) nennt, wurde eingerichtet, um unsere Kultur mit gemeinsamen elektronischen Arbeitsplätzen zu versorgen. Programme für die Zusammenarbeit und die gemeinsame Erfahrung zeigen, wie der Cyberspace strukturiert wird, um zu den vorherrschenden kulturellen Bedürfnissen zu passen. Die Rhetorik der Geschäftswelt betont die Zusammenarbeit, und so wird der Computer zu einem Werkzeug der Zusammenarbeit. Die Definition von virtuellen Gemeinschaften im Internet entspricht einer weitverbreiteten kulturellen Rhetorik, die die Bedeutung von flexiblen und freizügigen gemeinsamen Räumen hervorhebt. Die Rhetorik der Gemeinschaft spielt auch in der hohen postmodernen Theorie eine wichtige Rolle. Die meisten, vielleicht auch alle postmodernen Theoretiker stimmen darin überein, daß das Individuum aus sich selbst heraus nicht viel erreichen kann. Das Wissen selbst wird nicht von einem alleine arbeitenden Individuum konstruiert. Der Konstruktionsprozeß ist notwendigerweise sozial. Die Vorstellung, daß der individuelle Geist Wahrheiten entdeckt, war in der cartesianischen Weltsicht zentral, die die postmoderne Theorie kritisiert. Auf den ersten Blick sollte diese Zurückweisung schlecht für den Computer sein, den man als ultimative cartesianische Maschine begreifen könnte. In der Tat ist vielleicht dies der Grund, warum viele postmoderne Autoren den Computer noch immer als Paradigma der älteren kulturellen und ökonomischen Ordnung betrachten, die man überwinden muß. Andere jedoch haben es geschafft, den Computer nach akzeptablen postmodernen Zielen zu rehabilitieren. Die Schlüssel für diese Rehabilitation sind die Grafiken und die Konnektivität. Computergrafiken werden zwar durch dieselbe diskrete cartesianische Logik erzeugt, die auch die mathematische Analyse und die Textverarbeitung unterstützt. Doch scheint eine grafische Repräsentation den Computer aus dem Bereich der Logik in den Bereich einer sinnlichen Erfahrung zu versetzen. Gleichzeitig scheint das Netzwerk aus Computern diese von Maschinen einer individuellen Logik in ein kollektives Medium zu verwandeln und daher die Kommunikation und die Konstruktion von gemeinsamen Bedeutungen zu fördern. Das Internet ist nur nützlich oder sogar bedeutungsvoll, wenn viele Computer miteinander verbunden sind. Wenn ein Computer seine Internetverbindung verliert, dann verliert er seine Fähigkeit, am Prozeß der gemeinsamen Bedeutung teilzunehmen. Trotzdem ist die Wertschätzung der Konnektivität eine kulturelle Wahl. Der Computer kann auch so konstruiert werden, daß er seine cartesianischen Ursprünge herausstellt. Wir können behaupten, daß er in den früheren Jahrzehnten so gebaut wurde. In der Zeit von 1950 bis 1980, also vor dem Desktop- Computer und der großen Verbreitung von Netzwerken, waren Computer teure, individuelle,"alleinstehende" Maschinen. Die maßgebliche Computermetapher war nicht der Cyberspace, sondern die Künstliche Intelligenz . Der Computer galt als ein Modell des menschlichen Gehirns oder des menschlichen Geistes. Dieser Vergleich unterstellte, daß jeder Mensch eine logische Maschine sei, die Wissen durch einen Prozeß der autonomen Vernunft und nicht durch soziale Verhandlungen erreichen konnte. Künstliche Intelligenz ist immer noch ein wichtiger Bereich in der Computerwissenschaft, aber als kulturelle Metapher ist sie dem Tode geweiht, weil sie nicht unserem gegenwärtigen Bedürfnis nach sozial konstruierten und vermittelten Wissensformen entspricht.
Wir können erwarten, daß Computer immer besser mit Ton umgehen können. Wir können davon ausgehen, daß es in Zukunft eine Multimedia-Maschine gibt, die genauso Ton in hoher Qualität wie Video wiedergibt. Der Cyberspace kann bald genauso lärmend sein wie heute das Fernsehen. Aber wie das Fernsehen kann er auch durch das Fehlen einer auralen Resonanz, einer rhetorisch wirksamen Sprache charakterisiert sein. Im Fernsehen hat das gesprochene Worte viel von seiner Kraft verloren. Seine Aufgabe besteht oft nur noch darin, Bilder zu begleiten. Worte funktionieren sinnlich genausogut wie symbolisch. Menschen im Fernsehen sprechen oft deswegen, weil das Alltagsleben voll an Gesprächen ist und das Fernsehen versucht, die Zuschauer davon zu überzeugen, daß es mit dem Raum der alltäglichen Welt bruchlos verbunden ist. Man vertraut nicht darauf, daß die Worte Bedeutung in sich selbst haben, und oft darf ihre Bedeutung nicht von der der Bilder abweichen. Weil die Worte die Bilder nicht dominieren dürfen, wird ihre rhetorischen Kraft geschwächt. Diese Schwächung der rhetorischen Kraft wurde auch zum Merkmal des Kinos. Ein interessanter Aspekt des populären amerikanischen Films ist beispielsweise, daß die außergewöhnliche visuelle Darstellung von dem banalsten Dialog begleitet wird. Im Cyberspace scheint wie zuvor im Film und im Fernsehen das kommunikative Verhältnis zwischen Wort und Bild sich zugunsten des Bildes zu verschieben. Wenn wir als in einem globalen Dorf leben werden, dann muß das Dorf nach anderen Gesichtspunkten als das orale Dorf McLuhans gebaut werden. Telepolis als globales Dorf wird still sein - nicht in dem Sinn, daß es keinen Lärm gibt, sondern daß eine verbale Resonanz fehlt. Verbale Rhetorik wird ersetzt durch eine machtvolle visuelle Rhetorik, und diese Substitution wird Folgen für den kulturellen Gebrauch von Telepolis haben. Doch die Ersetzung des Verbalen durch das Visuelle wird keineswegs total sein, und sie geschieht auch nicht nur im Cyberspace. Telepolis spiegelt unsere gegenwärtige Kultur, in der das Ausbalancieren zwischen dem Verbalen und dem Visuellen schon geschieht.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer