Es besteht eine andauernde Furcht, daß uns die elektronische
Technologie unserer Menschlichkeit berauben könnte. Als
Computer noch alleinstehende Maschinen waren, wie dies bei den
meisten PCs vor zehn Jahren der Fall gewesen ist, war die
Sorge, daß die Zuwendung zu diesen Maschinen die Individuen
von ihren Familien und Freunden trennen könnte. Noch immer
hört man diese Befürchtung, z.B. in Clifford Stills neuem Buch
"Silicon Snake Oil". Jetzt, wo wir das Internet und Virtuelle
Realität haben, gibt es eine ähnliche Sorge über die
entmenschlichenden Wirkungen des Cyberspace: daß der
Cyberspace uns vom "wirklichen Raum" als einer Plattform für
menschliche Interaktion weglocken könnte; daß er uns
beispielsweise aus dem materiellen und sozialen Raum unserer
herkömmlichen Städte herausführen wird. Wird Telepolis
wirklich zum Niedergang der Stadt und anderer traditioneller
sozialer Strukturen führen? Für einen Nordamerikaner ist diese Frage ironisch, weil amerikanische Städte seit Jahrzehnten ihren Niedergang erfahren haben. Dafür gibt es viele soziale und ökonomische Erklärungen. Wenn wir eine Technologie dafür verantwortlich machen wollen, dann wäre dies nicht der Computer, sondern das Auto. Die Flucht aus den Städten in die Vorstädte nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die schwindelerregende Zunahme an Autos und durch die Qualität der Autobahnen ermöglicht. Selbst heute setzt sich diese Flucht weiter fort, besonders in den metropolitanen Bereichen im Süden und Westen. Unter den Kommunikationstechnologien hat vielleicht auch das Telefon diese Flucht unterstützt, indem es die Möglichkeit eröffnete, aus der Entfernung in Kontakt mit Verwandten und Freunden zu bleiben. Der Computer scheint hier keinen großen Unterschied bewirkt zu haben. Seit Jahrzehnten haben Futurologen enthusiastisch das Telecommuting prophezeit, also den Einsatz von Computern, Telefonen und Faxmaschinen, um zuhause zu arbeiten. Jedoch hat nur ein kleiner Teil der Arbeitenden das Telecommuting übernommen, selbst in den USA, wo die Bedingungen dafür am geeignetsten erscheinen. Die Amerikaner scheinen es vorzuziehen, in Vorstädten zu leben und jeden Tag zweimal zwanzig oder dreißig Kilometer auf überfüllten Autobahnen zu fahren. Das Bedürfnis, am Arbeitsplatz körperlich anwesend und sozial aktiv zu sein, muß daher für Manager und Angestellte groß sein. Menschen wollen noch immer körperliche, nicht virtuelle Mobilität: sie wollen sich selbst von Ort zu Ort bewegen und sich nicht niederlassen, um elektronisch Worte und Ideen zu versenden. Vielleicht werden in Zukunft mehr Menschen mehr Menschen eine Telearbeitsplatz wünschen, wenn das Fax und die elektronische Pot durch Videokonferenzen ergänzt oder ersetzt werden. Wenn der Cyberspace visueller wird, wird er auch besser die wirkliche soziale Umgebung am Arbeitsplatz imitieren können. Aber genau das ist der Punkt: die Gebrauchsweisen des Cyberspace müssen erfolgreich die unseres gewöhnlichen materiellen Raumes spiegeln. Computertechnologie verändert nicht so sehr soziale Praktiken, sie entspricht ihnen. Die Entwicklung dieser Technologie ist in einer solch intimen Beziehung mit anderen kulturellen Kräften verbunden, daß es unmöglich ist, die Technologie als entscheidenden Faktor für jeden sozialen oder kulturellen Wandel herauszulösen. McLuhan beschrieb die Medien als Extensionen des menschlichen Körpers. Cyberspace als Medium ist nicht nur eine Extension des Körpers, sondern auch eine Extension des belebten Raumes von menschlichen Gemeinschaften, und er kann die verschiedenen sozialen Vorlieben spiegeln. Menschen können sich entscheiden, in dicht bevölkerten Städten zu leben und trotzdem am Cyberspace teilzuhaben; der elektronische Raum kann eine begrenzte räumliche Umgebung erträglich machen. Vielleicht werden die Japaner den Cyberspace für sich genau auf diese Weise ausbauen, indem sie ihn zu einer Extension ihrer verdichteten urbanen Korridore machen. Auf der anderen Seite können Menschen in Vorstädten leben und von zuhause aus am Cyberspace teilnehmen, wie dies viele Amerikaner heute machen. Oder sie können, wie es auch viele Amerikaner machen, zwischen einem Ort im Cyberspace an ihrem Arbeitsplatz (ein Kommunikationssystem eines Unternehmens) und einem anderen in ihren Wohnungen (American On Line oder Prodigy) pendeln. Daher kann der Cyberspace suburbane und exurbane Gegebenheiten, die japanischen Megastädte oder die europäische Kombination von großen und mittleren Städten spiegeln. Cyberspace muß nicht etwas Einheitliches sein, wie dies von der gegenwärtig geläufigen Metapher in den USA unterstellt wird: dem "information superhighway". Amerikaner haben diese Metapher aus dem einfachen Grund angenommen, weil die Superautobahn die physische und mythische Struktur ist, die ihren Lebensraum organisiert, der in dieser Hinsicht sich von dem jeder anderen Kultur auf dem Planeten unterscheidet. Telepolis als VenedigIn einer Radiosendung in den USA stellte Geoffrey Nunberg kürzlich die Metapher der Superautobahn in Frage. Die Superautobahn unterstellt eine Ökonomie der Bewegung und eine rationale Verfügung über den Raum. Für Nunberg gleicht aber der Cyberspace oder zumindest das Internet eher der Stadt Venedig im Februar: "...Man sucht sich seinen Weg durch neblige Straßen und über Brücken, bis man jede Orientierung hinsichtlich der Himmelsrichtung verliert, und dann befindet man sich plötzlich auf einem der herrlichen Plätze. Das rostige Tor an der Straße dort könnte sich auf einen gepflegten Garten öffnen, hinter dem ein Palazzo mit langen Fluchten von Zimmern und Sälen, aber von der Straße aus kann man nichts davon sehen. Es ist ein Ort, den man als eine Anhäufung von Wegen und versteckten Durchgängen kennenlernt, so wie ein Förster den Wald kennt."Nunbergs Vergleich fängt die Spontaneität und sogar den Reiz des Browsens im Internet ein. Das gelingt ihm durch einen Vergleich mit der romantischsten Stadt, nicht mit den zeitgenössischen Siedlungen, in denen die meisten von uns heute leben. Diese Beschreibung von Venedig hebt jedoch eine Qualität der Heterogenität hervor, die den meisten zeitgenössischen Städten gemeinsam ist. Die heutige Stadt zeigt Unterschiede in ihren Traditionen, Räumen, Angeboten und Einwohnern. Auch der Cyberspace ist heterogen. Seine Geschichte ist viel kürzer als die jeder Stadt, aber er ist wie viele zeitgenössische Städte explosiv und ungeordnet gewachsen. Der Cyberspace eröffnet sich sehr verschiedenen Bevölkerungsschichten: angefangen von den Firmenangestellten über die Akademiker bis hin zu den Hackern. Teile des Cyberspace reflektieren bereits die übereinander geschichtete Welt des multinationalen Unternehmens, andere Teile den leidenschaftlichen und repititiven Raum der Computerhacker. Ein Großteil des Cyberspace ähnelt Nunbergs Schilderung der engen und nebligen Durchgänge in Venedig. Es gibt allerdings auch Bereiche, die mit der eleganten, die Entfernungen zum Verschwinden bringenden Effizienz der Superautobahn arbeiten. Es gibt Nischen oder Nachbarschaften für alle der potentiell unvergleichbaren Gemeinschaften. Anders wie materielle Städte braucht kein Bereich des Cyberspace eine einzige und stabile Architektur. Die Architektur des Cyberspace variiert mit der Software, die man einsetzt, um seine Konturen aufzuzeichnen und zu untersuchen. Die Software kann den Raum so konfigurieren, daß die Sicht dunkel oder ganz deutlich ist. Zum Beispiel wird das Erscheinungsbild eines Internet-site durch den Browser bestimmt, den man verwendet, um die site zu besuchen. Eine Befehlszeile als ASCII Schnittstelle läßt die Daten linear und abstrakt werden. Ein graphischer Web-Browser kann das Verhältnis des Benutzers zur Information durch die Hervorhebung des bildlichen und hypertextuellen Charakters der Information verändern. Die Software zur Organisation und zur Suche kann verschiedene soziale Konstruktionen am selben Ort positionieren. Das sogenannte "World Wide Web" wurde im Internet zum bevorzugten Protokoll für die Konstruktion des Cyberspace. Das World Wide Web, ein unbegrenzt sich erstreckender Hypertext, ist populärer und einflußreicher als frühere hierarchische Systeme wie beispielsweise "gopher". Das WWW erzeugt für seine Benutzer eine assoziative, offene Struktur, und es diese Qualität des Cyberspace, die Nunberg an Venedig erinnert. Die Vorliebe für das WWW zeigt, wie wir den Cyberspace als eine Spiegelung unseres idealen kulturellen Raumes oder zumindest als Spiegelung des populärsten Ideals einrichten. (Die tiefreichende Neigung unserer Kultur zur Heterogenität bedeutet, daß auch Raum für solche Gruppen geschaffen wird, die Heterogenität zurückweisen.) Offensichtlich muß ein Computernetzwerk keine solche hypertextuelle Verschiedenartigkeit zulassen: es kann starr und hierarchisch gemacht werden. Manchmal hörte man Rufe, daß das Internet "organisiert" werden müßte, was bedeutet, mehr Kontrolle und eine klarere, eher hierarchische Struktur einzuführen. Der Trend jedoch scheint weiter dahin zu gehen, das Internet als Patchwork zu konstruieren, in dem Sites lokal organisiert und dann zu einem nicht organisierten, hoch assoziativen Ganzen zusammengefügt zu werden. Durch Protokolle wie das WWW und Schnittstellen wie Mosaic und Netscape bauen wir den Cyberspace als Ausarbeitung des Raumes, den wir in unserer Kultur überall bevorzugen. Einheitlichkeit, Einstimmigkeit und Reinheit sind jetzt kulturell suspekt. Die zeitgenössische Stadt kann nie heterogen genug sein, um sich neuen Bevölkerungsschichten oder alten im Prozeß der Redefinierung anzupassen. Dasselbe gilt für den Cyberspace. Virtuelle GemeinschaftDie Heterogenität der Stadt besteht heute nicht wesentlich in der Verschiedenartigkeit der materiellen Räume, sondern in der von kulturellen Räumen, die in der urbanen Landschaft koexistieren. Die postmoderne Kultur feiert eine derartige Verschiedenheit. Das Ziel der Moderne, besonders der modernen Architektur, bestand darin, eine geometrisch reine Umwelt Umgebung zu definieren, in der weder materielle noch kulturelle Verschiedenartigkeit hinreichend anerkannt wurde. Keine sich überschneidenden und verschiedenartigen kulturellen Räume bereitgestellt zu haben, war vielleicht die größte Schwäche des Programms der Moderne, zumindest aus der Sicht der Postmoderne. Aber dann entsteht die Frage: Was bewahrt in all der gefeierten postmodernen Verschiedenartigkeit die Stadt oder jede andere soziale Einheit davor auseinanderzufallen? Die Bedrohung, daß Verschiedenartigkeit soziale Desintegration bedeuten könnte, erklärt, warum die postmoderne Kultur rhetorisch die "Gemeinschaft" so sehr betont. Die postmoderne Gemeinschaft ist nicht notwendigerweise durch solche traditionelle Markierungslinien wie dem Geburtsort, der Nationalität oder der Religion definiert. Gegenüber den traditionellen Grenzen kann die postmoderne Gemeinschaft oft nach dem Geschlecht, der Rasse, dem ökonomischen oder historischen (z.B. kolonialen) Status oder der persönlichen Wahl definiert werden. Es gibt nicht eine einzige Gemeinschaft, sondern viele, und jedes Individuum kann gleichzeitig vielen Gemeinschaften angehören. In diesem Kontext ist es nicht überraschend, daß der Cyberspace als ein Ort für die Bildung von Gemeinschaften betrachtet wird. Solche virtuellen Gemeinschaften können aus denen bestehen, die sich für dieselbe Newsgroup eingetragen haben, oder aus denen, die regelmäßig über email miteinander kommunizieren. Virtuelle Gemeinschaften sind postmodern, weil sie nicht im wirklichen Raum verankert sind und ihnen die bedrohliche Dauer von physischen Gemeinschaften abgeht. Ein Mensch kann zu vielen virtuellen Gemeinschaften gehören und seinen Status von einer zur anderen ganz leicht verändern - allein dadurch, daß er nicht mehr an einer Newsgroup teilnimmt und sich einer anderen anschließt.Wichtige Werkzeuge zur Bildung von elektronischen Gemeinschaften sind die sogenannten MUDs der MOOs, gemeinsame Umgebungen für eine spontane Kommunikation. Benutzer tragen sich in einem Netzwerk ein und "betreten" das MUD. MUDs besitzen Räume oder andere räumliche Strukturen, und die Spieler versammeln sich in diesen Räumen, um miteinander zu sprechen oder zu interagieren. Ihre Gespräche und Interaktionen werden in Worten beschrieben, da MUDs gegenwärtig weder Grafiken noch Ton zulassen. Ein Spieler kann eine Frage tippen. Die Frage erscheint dann auf dem Bildschirm aller anderen Spieler, die sich gegenwärtig in diesem Raum aufhalten. Jemand antwortet, und seine Antwort erscheint auf allen Bildschirmen, auch auf dem, der zuerst gefragt hat. In Wirklichkeit arbeiten alle Spieler in einem Raum an einer fiktiven Prosa zusammen, an einer gemeinsamen Geschichte, deren Dialoge und Erzählung auf jedem ihrer Bildschirme herunterrollt. Sie nehmen auch an einer postmodernen Gemeinschaft teil, die nur so lange bestehen bleibt, so lange die Spieler daran interessiert bleiben, die Fiktion aufrechtzuerhalten. Wenn Spieler in einem MUD das Internet benutzen, um gemeinsam eine Fiktion herzustellen, so benutzen andere aus der Geschäftswelt die vernetzten Computer für praktischere Kooperationsformen. Elektronische Post und Memos, Kalender und Zeitpläne sowie Textdokumente, die gemeinsam bearbeitet werden können, sind Beispiele einer elektronisch vermittelten Zusammenarbeit. Wie die MUDs sind diese Programme noch alle mehr oder weniger textbasiert. Aber es gibt auch Experimente mit einer wahrnehmbar gemachten Zusammenarbeit in Form des interaktiven Video für Konferenzen und Planungs- und Entwurfsprozeßen in Gruppen. Ein neuer Bereich in der Computertechnologie, den man "Computer-Supported Collaborative Work" (CSCW) nennt, wurde eingerichtet, um unsere Kultur mit gemeinsamen elektronischen Arbeitsplätzen zu versorgen. Programme für die Zusammenarbeit und die gemeinsame Erfahrung zeigen, wie der Cyberspace strukturiert wird, um zu den vorherrschenden kulturellen Bedürfnissen zu passen. Die Rhetorik der Geschäftswelt betont die Zusammenarbeit, und so wird der Computer zu einem Werkzeug der Zusammenarbeit. Die Definition von virtuellen Gemeinschaften im Internet entspricht einer weitverbreiteten kulturellen Rhetorik, die die Bedeutung von flexiblen und freizügigen gemeinsamen Räumen hervorhebt. Die Rhetorik der Gemeinschaft spielt auch in der hohen postmodernen Theorie eine wichtige Rolle. Die meisten, vielleicht auch alle postmodernen Theoretiker stimmen darin überein, daß das Individuum aus sich selbst heraus nicht viel erreichen kann. Das Wissen selbst wird nicht von einem alleine arbeitenden Individuum konstruiert. Der Konstruktionsprozeß ist notwendigerweise sozial. Die Vorstellung, daß der individuelle Geist Wahrheiten entdeckt, war in der cartesianischen Weltsicht zentral, die die postmoderne Theorie kritisiert. Auf den ersten Blick sollte diese Zurückweisung schlecht für den Computer sein, den man als ultimative cartesianische Maschine begreifen könnte. In der Tat ist vielleicht dies der Grund, warum viele postmoderne Autoren den Computer noch immer als Paradigma der älteren kulturellen und ökonomischen Ordnung betrachten, die man überwinden muß. Andere jedoch haben es geschafft, den Computer nach akzeptablen postmodernen Zielen zu rehabilitieren. Die Schlüssel für diese Rehabilitation sind die Grafiken und die Konnektivität. Computergrafiken werden zwar durch dieselbe diskrete cartesianische Logik erzeugt, die auch die mathematische Analyse und die Textverarbeitung unterstützt. Doch scheint eine grafische Repräsentation den Computer aus dem Bereich der Logik in den Bereich einer sinnlichen Erfahrung zu versetzen. Gleichzeitig scheint das Netzwerk aus Computern diese von Maschinen einer individuellen Logik in ein kollektives Medium zu verwandeln und daher die Kommunikation und die Konstruktion von gemeinsamen Bedeutungen zu fördern. Das Internet ist nur nützlich oder sogar bedeutungsvoll, wenn viele Computer miteinander verbunden sind. Wenn ein Computer seine Internetverbindung verliert, dann verliert er seine Fähigkeit, am Prozeß der gemeinsamen Bedeutung teilzunehmen. Trotzdem ist die Wertschätzung der Konnektivität eine kulturelle Wahl. Der Computer kann auch so konstruiert werden, daß er seine cartesianischen Ursprünge herausstellt. Wir können behaupten, daß er in den früheren Jahrzehnten so gebaut wurde. In der Zeit von 1950 bis 1980, also vor dem Desktop- Computer und der großen Verbreitung von Netzwerken, waren Computer teure, individuelle,"alleinstehende" Maschinen. Die maßgebliche Computermetapher war nicht der Cyberspace, sondern die Künstliche Intelligenz . Der Computer galt als ein Modell des menschlichen Gehirns oder des menschlichen Geistes. Dieser Vergleich unterstellte, daß jeder Mensch eine logische Maschine sei, die Wissen durch einen Prozeß der autonomen Vernunft und nicht durch soziale Verhandlungen erreichen konnte. Künstliche Intelligenz ist immer noch ein wichtiger Bereich in der Computerwissenschaft, aber als kulturelle Metapher ist sie dem Tode geweiht, weil sie nicht unserem gegenwärtigen Bedürfnis nach sozial konstruierten und vermittelten Wissensformen entspricht. Repräsentationsweisen im CyberspaceWas befähigt den Cyberspace, unsere Vorlieben für Heterogenität in virtuelle Gemeinschaften zu spiegeln? Es ist die Flexibilität des Computers als Medium. Der Computer kann sowohl grafische als auch textuelle Repräsentationsweisen unterstützen. Er kann schnell zwischen diesen Repräsentationsweisen wechseln und schnell Repräsentationen von einem Benutzer zu einem anderen durch elektronische Netzwerke senden. Eine vernetzte, interaktive und multimodale Umgebung paßt besser zum postmodernen Gemeinschaftsgefühl als frühere Medien wie Druck, Radio oder sogar das Telefon. Überdies läßt eine steigende Spannung zwischen verbalen und visuellen Repräsentationsweisen den Computer zu einem idealen Ort werden, um die Heterogenität der postmodernen Kultur zu verwirklichen. Seit den 40er Jahren bedeutete Computertechnologie den Prozeß des Repräsentierens, des Speicherns und des Abrufens von Information in Form von willkürlichen Symbolen. Für viele Nutzungen ist der Cyberspace sogar heute noch ein Raum von Zahlen und Worten. Aber jetzt entsteht eine andere technische und kulturelle Cyberspace- Version. ASCII-Terminals wurden ersetzt durch grafische Bildschirme und Schnittstellen von Befehlszeilen durch solche mit grafischen Benutzeroberflächen. Die ersten Grafikprogramme wurden in den 60er Jahren entwickelt und liefen nur auf Mainframe-Computern. Aber Hardware und Software haben sich kontinuierlich weiterentwickelt, bis in den 90er Jahren Grafiken in guter Qualität, sogar Animationen und Video, auf den Bildschirmen von relativ billigen PCs erschienen sind. Cyberspace ist keine Konzentrierung mehr von alphanumerischen Symbolen. Er ist jetzt oft eine unstabile Kombination solcher Symbole mit Icons, Grafiken und bewegten Bildern, Computergrafiken und -animationen definieren sowohl für Spezialisten als auch für die breite Öffentlichkeit den Computer neu. In den USA ist beispielsweise die "special interest group" für Grafik einer der größten und einflußreichsten Verbände innerhalb des ACM, der ersten professionellen Organisation in der Computertechnologie. Mehr und mehr Benutzer von PCs entscheiden sich für Multimedia- Maschinen, ausgestattet mit CD-ROM-Spielern und hochwertiger Grafik. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist die Computeranimation im Film und Fernsehen ungeheuer populär. Viel mehr Menschen (Hunderte von Millionen) sind in einer Fernseh- oder Filmversion des Cyberspace gewesen, als jemals einen Textprozessor benutzt gaben oder durch das Internet gebrowst sind. Und sogar Benutzer, die auch nur einen Blick auf grafische Browser für das World Wide Web geworfen haben, sind mit der alphanumerischen Kommunikation nicht mehr zufrieden. Die grafischen Web-Browser sind zu unseren Fenstern in den Cyberspace geworden. Benutzer haben die Einstellung gewonnen, daß das Internet eine Struktur aus miteinander verbundenen multimedialen Dokumenten ist, die durch unterstrichene blaue Worte und durch Grafiken, die von blauen Bändern umrahmt sind, vernetzt sind. Überall im Cyberspace muß die symbolische Information (Text und Zahlen) mit Bildern um Bandbreite und um die Aufmerksamkeit der Benutzer in Konkurrenz treten. In dieser Konkurrenz befindet sich die symbolische Kommunikation im Nachteil. Wenn grafische Techniken einmal vorhanden sind, scheinen sie kulturell unwiderstehlich zu werden. Computergrafik eröffnet eine unmittelbare sinnliche Erfahrung, und der Wunsch nach einer solchen Erfahrung ist die kulturelle Bedeutung des Cyberspace. William Gibson, der in seinem Roman "Neuromancer" den Begriff "Cyberspace" prägte, scheint damit die ultimative Verwandlung jeder Information in sinnliche Erfahrung, verstanden als virtuelle Realität, gemeint zu haben. Virtuelle Realität ist die Erfahrung, von einer vollständigen und rahmenlosen grafischen Umwelt umgeben zu sein. VR verschiebt das Gleichgewicht zuungunsten von willkürlichen Symbolen und zugunsten des Wahrnehmbaren und sie bietet uns den Cyberspace als eine visuell realisierte Welt an. Als der Computer nur eine numerische Maschine war, stellte er die sozialen Funktionen des erlebten Raumes nicht in Frage. Mit elektronischer Post, Newsgroups und anderen Formen der schriftlichen Kommunikation im Internet wurde die Infragestellung plausibel. Mit den grafischen Computern und der Virtuellen Realität kann der Benutzer jetzt (bis zu einem geringem Ausmaß) den Wahrnehmungsraum, den er in der wirklichen Welt bewohnt, verdoppeln. Er kann visuell für sich selbst oder für andere in diesem Raum präsent sein. Unsere Kultur scheint dazu zu neigen, den Cyberspace immer weiter in den Bereich des Visuellen zu ziehen, obgleich sie aus dem Cyberspace nicht gänzlich Worte und andere willkürliche Symbole eliminieren kann. Cyberspace ist eine heterogene Mischung aus verbalen und visuellen, symbolischen und perzeptiven Repräsentationsweisen, und er wird dies auch bleiben. Im Zeitalter des Buchdrucks konnten willkürliche Symbole für sich selbst stehen. Im Cyberspace benötigen sie Unterstützung. Strukturen von willkürlichen Symbolen müssen "visualisiert" werden, um überzeugend zu sein. Der Konflikt zwischen den Repräsentationsweisen läßt den Cyberspace zu einem derart interessanten kulturellen Ort werden.Cyberspace und das global villageMan hat oft gesagt, wie beispielsweise die Nachfolger von Marshall McLuhan und Walter Ong, daß uns die elektronische Technologie wieder in eine orale Kultur zurückbringt. Als McLuhan von einem "global village" sprach, erinnerte er an ein Bild (egal ob dies zutreffend ist oder nicht) von einem Dorf in einer einfachen oralen Kultur, in der Wissen in der vielstimmigen Atmosphäre oraler Kommunikation gespeichert und weitergegeben wird. Aber der Cyberspace besitzt keine Tendenz, Wissen an orale Kommunikation zu binden. Er ähnelt eher dem kulturellen Raum der Moderne, insofern er den Blick dem Gehör vorzieht. Das mag eine seltsame Behauptung angesichts des Lärms der gegenwärtigen elektronischen Kultur sein, der über alles hinausgeht, was entweder in einem alten oralen Dorf oder in der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts produziert werden konnte. Die Technologie zur Reproduktion und Verstärkung von Ton ist jetzt ziemlich ausgereift und zu einer kulturellen Norm geworden. In den fortgeschrittenen Industriestaaten verbringen Teenager und viele Erwachsenen eine Menge der Zeit, in der sie wach sind, umgeben von Musik und Fernsehen. Sie tragen sogar diese Tonumwelten in Form von kleinen Radios oder Kassettengeräten mit sich herum. Das sind natürlich die älteren Formen der elektronischen Technologie: Fernsehen, Radio, Tonbandgerät. Computerbasierte Multimedia- und Telekommunikationssysteme wie das Internet beginnen gerade erst, die Dimension des Tons zu entwickeln. Die Aufmerksamkeit war bislang viel stärker auf die Grafik und das Video ausgerichtet. Die WWW-Browsers unterstützen noch immer einen Raum, der vorwiegend grafisch und textuell ist. Ton spielt eine geringe Rolle.Wir können erwarten, daß Computer immer besser mit Ton umgehen können. Wir können davon ausgehen, daß es in Zukunft eine Multimedia-Maschine gibt, die genauso Ton in hoher Qualität wie Video wiedergibt. Der Cyberspace kann bald genauso lärmend sein wie heute das Fernsehen. Aber wie das Fernsehen kann er auch durch das Fehlen einer auralen Resonanz, einer rhetorisch wirksamen Sprache charakterisiert sein. Im Fernsehen hat das gesprochene Worte viel von seiner Kraft verloren. Seine Aufgabe besteht oft nur noch darin, Bilder zu begleiten. Worte funktionieren sinnlich genausogut wie symbolisch. Menschen im Fernsehen sprechen oft deswegen, weil das Alltagsleben voll an Gesprächen ist und das Fernsehen versucht, die Zuschauer davon zu überzeugen, daß es mit dem Raum der alltäglichen Welt bruchlos verbunden ist. Man vertraut nicht darauf, daß die Worte Bedeutung in sich selbst haben, und oft darf ihre Bedeutung nicht von der der Bilder abweichen. Weil die Worte die Bilder nicht dominieren dürfen, wird ihre rhetorischen Kraft geschwächt. Diese Schwächung der rhetorischen Kraft wurde auch zum Merkmal des Kinos. Ein interessanter Aspekt des populären amerikanischen Films ist beispielsweise, daß die außergewöhnliche visuelle Darstellung von dem banalsten Dialog begleitet wird. Im Cyberspace scheint wie zuvor im Film und im Fernsehen das kommunikative Verhältnis zwischen Wort und Bild sich zugunsten des Bildes zu verschieben. Wenn wir als in einem globalen Dorf leben werden, dann muß das Dorf nach anderen Gesichtspunkten als das orale Dorf McLuhans gebaut werden. Telepolis als globales Dorf wird still sein - nicht in dem Sinn, daß es keinen Lärm gibt, sondern daß eine verbale Resonanz fehlt. Verbale Rhetorik wird ersetzt durch eine machtvolle visuelle Rhetorik, und diese Substitution wird Folgen für den kulturellen Gebrauch von Telepolis haben. Doch die Ersetzung des Verbalen durch das Visuelle wird keineswegs total sein, und sie geschieht auch nicht nur im Cyberspace. Telepolis spiegelt unsere gegenwärtige Kultur, in der das Ausbalancieren zwischen dem Verbalen und dem Visuellen schon geschieht. Technologischer DeterminismusCyberspace ist eine Umgebung der Zusammenarbeit und eine Konstellation von sich verändernden virtuellen Gemeinschaften. Er ist auch ein Ort, an dem die neue Spannung zwischen dem Wort und dem Bild, zwischen dem willkürlichen und dem motivierten Zeichen dargestellt werden kann. Das Wichtigste ist, daß der Cyberspace zu dem wird, was unsere Kultur aus ihm machen will, und nicht umgekehrt. Um den Cyberspace zu verstehen, müssen wir uns daher nicht der unpopulären Vorstellung eines technologischen Determinismus zuwenden. Der Computer zwingt uns nicht dazu, eine neue virtuelle Welt zu beziehen und unsere Teilnahme an älteren kulturellen Räumen aufzugeben. Auch wenn der Computer weitreichende technologische Begrenzungen mit sich bringt, so hat die Kultur innerhalb dieser Begrenzungen eine beträchtliche Freiheit, die Struktur des Cyberspace zu bestimmem. Der Cyberspace wird zu einer Extension unserer früheren Räume der Interaktion, die Stadt eingeschlossen. Unsere Bevorzugung des Sinnlichen vor dem Symbolischen und des Gemeinsamen vor dem Individuellen wird im Cyberspace genauso wie irgendwo anders in unserer Kultur verstärkt. Telepolis ersetzt nicht die zeitgenössische Stadt, sie ist eher ihr virtuelles Abbild.Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer |