Derrick de Kerckhove

Täuschung der Eigenwahrnehmung und Automatisierung



Die Maschinen befreien sich von uns. Seit ihren Anfaengen bis hin zur Virtuellen Realitaet ist jede Maschine eine Weise des Ausdrucks, eine Materialisation von Ideen und Gesten. Auch wenn man nicht selbst dieses Auto oder diesen Computer erfunden oder konstruiert hat, so wird die Maschine, wenn man das Auto steuert oder etwas auf der Tastatur schreibt, zur Schnittstelle, vermittels derer der eigene Koerper mit der Strasse und das eigene Nervensystem mit dem Bildschirm in Kontakt kommt. Die Maschine wird darueber hinaus zu einem Teil von einem selbst, genauso wie man selbst zum Teil der Maschine wird. Das ist auch beim Telefon der Fall, wo man gleichzeitig hier und dort ist. Wie gross ist ein Koerper, der von Muenchen nach Toronto telefoniert? Und wo befindet sich ein Taenzer, der in Toronto ueber ein Videokonferenzsystem mit jemanden tanzt, der sich in Muenchen befindet? Man wird sagen, dass es nicht nur ihre Bilder sind, die tanzen, sondern dass diese Bilder eine Intelligenz besitzen, denn sie sehen sich, folgen einander mit dem Blick und der Geste. Aus zwei Dingen wird eines: Entweder sind unsere Bilder autonom, von uns unabhaengig, und koennen untereinander in einen Dialog eintreten, der unserer Kontrolle entgleiten koennte, oder das, was handelt, geht von uns aus und ist etwas, das wir noch immer "Ich" nennen, das sich aber zwischen Toronto und Muenchen befindet und sich ueber 6000 Kilometer erstreckt.

Das war den Zeitgenossen von Jules Vernes noch nicht bekannt, aber uns wird es offensichtlich, weil in unser Leben immer mehr Medien, immer mehr elektronische und mechanische Maschinen eindringen.Auf den ersten Blick hat sich nur unsere Kleidung veraendert, doch wenn man genauer hinsieht, dann erkennen wir, dass sich unsere Vorstellung von uns selbst nicht mehr ganz auf der Hoehe der neuen Situationen bewegt. Kann uns die Kunst dabei helfen, uns hier wiederzufinden? Ich glaube schon, sofern Kunst eine metaphorische Interpretation der Wirkungen ist, die unsere Technologien auf uns ausueben. Auf der aesthetischen Ebene, um die noch immer durch die technologische Verfuehrung schwer zu treffende Unterscheidung zu erleichtern, geht es um das Verstaendnis, dass der von der Kunst eingesetzte "Filter" der technologischen Interpretation immer metaphorisch und nicht buchstaeblich ist. Der Kuenstler arbeitet mit der Technologie, um ihr eine andere Bedeutung als ihre technische Finalitaet zu geben. Das Theater ist beispielsweise eine auf die Buehne gebrachte Projektion unseres Bewusstseinsraums, unseres mentalen Raums, wie er durch die Schrift modelliert wird. Der Roman ist das verinnerlichte Theater. Das Ballet, das mit dem Tanz des Chors in der Tragoedie begann, wurde zu einer Darstellung unserer Gefuehle, die von der Kultur des Blicks beherrscht werden. Um zivilisiert zu sein, ist es besser, unsere Gefuehle zu betrachten, als sie auszuleben. Die metaphorischen Behandlungen des Virtuellen konvergieren ebenso wie die elektronischen Technologien, die die interaktive Maschine konstituieren, an einem Punkt, der durch die Technologien erweitert wird. In diesem Sinn - Virilio sieht das richtig, auch wenn er dies mit etwas groesserem Enthusiasmus sagen muesste - verleiht das dem Virtuellen innewohnende Gewicht "dem Koerper als Zentrum eine primaere Bedeutung."

Die Wiederkehr des Koerpers

Mit dem Auftreten von immer leistungsfaehigeren und intelligenteren Robotern entsteht die Versuchung, direkt in epistemologische UEberlegungen ueber die Art der durch das Virtuelle versprochenen Wirklichkeitsverdoppelung, ueber die von ihm konstruierte totale Veraeusserlichung der Imagination einzutreten, es aber dabei bewenden zu lassen, darueber nur mit Bewusstsein zu sprechen. Doch genau das wuerde vergessen lassen, dass eine der Botschaften des Mediums die Wiederkehr des Koerpers sowohl in der Verfeinerung der technischen Arbeit ueber die fuenf Sinne als auch im wissenschaftlichen Diskurs selbst ist. Mit der Rockmusik haben wir unseren Koerper durchgeschuettelt, um ihn nach vier Jahrhunderten der Unterdrueckung und der Verdraengung wieder zu gewinnen. Was ist der Unterschied zwischen dem Ballett und dem Rock? Derselbe wie der zwischen der Erinnerung an eine Erfahrung, wo man etwas von aussen sieht, und einem Moment, den man von innen wiedererlebt. Wehe den schlechten Wahrsagern, um mit Marshall McLuhan selbst anzufangen, die uns mit der Lehre von den Engeln, mit der chronischen und verallgemeinerten Entkoerperung, mit der Abstraktion ad vita aeternam in unseren Simulationen oder sogar mit unseren sensomotorischen Behinderungen drohen, die uns ein fuer alle Mal in einer unterwuerfigen Haltung festhalten wuerden. "Der virtuelle Menschen", sagt Baudrillard, "sitzt unbeweglich vor seinem Bildschirm und verliebt sich durch den Bildschirm und durch seine Telekonferenzsitzungen. Er wird zu einem koerperlich und zweifellos auch geistig Behinderten." Gluecklicherweise gibt es die Kunst, um uns aus dieser Ohnmacht aufzuwecken.

Der Koerper denkt. Das hatte man vergessen, seit er so gut in unseren textuellen Obsessionen vom Kopf getrennt wurde. Obwohl die Intelligenz des Koerpers, ohne die nicht einmal die Schrift funktionieren wuerde, bereits sichtbar ist, wie radikal sie auch immer vom Fernsehbildschirm verleugnet wurde, so wird sie in der Virtuellen Realitaet ganz evident. Alle Programmierer im Bereich der Kuenstlichen Intelligenz wissen, dass jede Informationsverarbeitung, so gering ihre Komplexitaet auch sein mag, auf eine psychosensorielle Synthese hinweist, an der alle Sinne beteiligt sind. Im Ursprung des Wortes "penser" (denken), muss man das Wort "peser" (wiegen, schwer sein) entdecken, was darauf hinweist, dass die taktile Empfindung des Gewichts sich im Herzen der Urteilskraft und damit auch der Intelligenz befindet. Ein zeitgemaesser Roboter kann sich nicht auf rein muskulaere Aufgaben im haeuslichen oder industriellen Bereich beschraenken, sonst waere er kein Roboter, sondern nur eine komplexe Maschine. Das ist genau der Grund, warum heute die Robotik ueber die Koerperintelligenz einen neuen Aufschwung erfaehrt.

Telepraesenz

Man braucht sehr wohl einen mit unserem Geist verbundenen Koerper, der kuenftig vom Computer unterstuetzt wird und ueber ihn unmittelbar zu jedem Ort auf der Erde Zugang hat. Der Roboter spiegelt wie jede andere Technologie unser Bild wider, das hinsichtlich der einen oder anderen Funktion spezialisiert ist. Darauf weist uns der Kanadier Pierre Fournier mit dem seine Arbeit kennzeichnenden stillen Humor in seiner Installation "Narcissisme" hin, bei der ein mechanischer Arm einen Spiegel haelt, in dem sich die Maschine selbst sieht. Der Arm koennte genausogut einen Plutoniumstab oder ein Skalpell halten, denn die Robotik ist sehr daran interessiert, Maschinen zu entwickeln, die an entfernten Orten eingesetzt werden oder mit gefaehrlichen Materialien hantieren koennen. Das ist das heute fast schon banal gewordene Thema der Telepraesenz. Die Telepraesenz, eine "weiche" Form der Telepraesenz, kann unser Bild und dessen spezifische Anwendungen durch weitraeumige Netze ueber grosse Entfernungen uebertragen.

So verlaesst der von einem Computer unterstuetzte Koerper seine traditionellen Grenzen, die durch seine Haut bestimmt wurden. Unsere neue Haut ist die irdische Atmosphaere, die durch ihre Satelliten sensorisch geworden ist. Das wollte der australische Kuenstler Stelarc Paul Virilio zu erklaeren versuchen, als er von der neuen Gestaltung des Koerpers gemaess einer pan-planetarischen Konzeption der Physiologie sprach, die eher die Techniken in unser Selbstbild einschliesst als diese ausgrenzt. Doch Virilio, beunruhigter als jemals zuvor, sah darin die Bedrohung durch eine neue Kolonisation, die viel schrecklicher sei als jede andere zuvor, eine Kolonisation des Koerpers sowohl durch die Nano- als auch durch die Makrotechnologien. Es ist wahr, dass die pharmazeutische Industrie, die sich die Entdeckungen des Genom-Projekts patentieren laesst, unserem Recht als Akteure, wenn nicht gar als Autoren unseres eigenen genetischen Codes mit Verachtung entgegentritt.

Die neue Taktilitaet: eine globale Eigenwahrnehmung

Jedes Interaktionssystem zwischen dem Koerper und der Maschine ist eine Variation des taktilen Sinns. Mit diesen Maschinen entdecken wir den fundamentalen taktilen Sinn unseres Koerpers wieder. Im Herzen der Interaktivitaet steht die grundlegende neurotechnologische Korrelation der Eigenwahrnehmung, d.h. der direkten und unmittelbaren Wahrnehmung, dass man mit seinem Koerper in der Welt ist. Selbst ein Auto laesst ueber die Federung in unserem Koerper die unterdrueckte oder lebhafte Empfindung der Strasse spuerbar werden, an die wir uns in einem Sportwagen eng anschmiegen oder ueber die wir in einer Limousine gleiten. Was sollte man dann erst von interaktiven Maschinen sagen, die auf die Geste, den Blick, die Stimme reagieren? Wir koennen jetzt in uns die Vorstellung wachrufen, dass um uns herum alles Druck, Intervall oder Beruehrung ist und dass der Raum selbst, weit davon entfernt, neutral zu sein, wie dies uns die machtvolle Illusion des Blicks glauben liess, mit feinen Anwesenheiten, mit bislang nicht beachteten Reizen erfuellt ist. Der Tanz, den wir lange Zeit als reines Schauspiel verstanden haben, ist selbst - und war dies immer - eine Liebkosung. Aber was ich auch immer beim Tanzen empfinde, so bin ich mir doch niemals sicher, ob ich mir dies vorstelle oder ob mich das wirklich koerperlich beruehrt.

Es gibt eine Wahrnehmung im Inneren des Koerpers und eine Wahrnehmung ausserhalb des Koerpers, denn es gibt auch das, was man eine Seinswahrnehmung nennen koennte, d.h. das Feedback, das man in unserem Sein erhaelt. Dank unserer Veraeusserlichungen endet der Koerper nicht mehr an unserer Haut. Wir sind viel groesser geworden. Die Telepraesenz fuegt den Moeglichkeiten des Virtuellen hinsichtlich der Ausdehnung mit der Hilfe von taktilen Schnittstellen unsere Eigenwahrnehmung hinzu, indem die aufgewendete Koerperkraft von irgendeinem Ort in den Kommunikationsnetzen wieder zu uns zurueckkehrt. Bevor die Tatsache noch zu uns vorgedrungen ist, dass alle Schnittstellen-Technologien Variationen des taktilen Sinnes sind, suchen die Kuenstler des Virtuellen bereits einen neuen taktilen Sinn. Stelarc nimmt beispielsweise einen dritten Arm, eine direkt mit seinem Nervensystem verbundene elektromechanische Prothese, eine Darstellung der technologischen Goetting Kali, um in einer noch immer von der Vorherrschaft des Blicks blinden Kultur wie viele andere Kuenstler im Bereich der Robotik die Rueckkehr des Tastsinnes zu feiern. Das reicht von ganz konkreten Versuchsanordnungen wie beim "Transatlantique Handshake" von Norman White und Doug Back ( einem System zum Austausch von koerperliche Beruehrung via Computer, Modem und Telefon) bis hin zu subtileren wie dem "Zerseher" von Joachim Sauter und Dirk Luesebrink, wo jeder die Oberflaeche eines digitalen Bildes nur mit seinem Blick veraendern kann. "La Plume" von Edmond Couchot, Michel Bret und Marie-Helene Tramus oder "Very Nervous System" von David Rokeby sind zwei Variationen des Intervallthemas, waehrend Myron Krueger im "Video Place" die propriozeptiven Empfindungen von Texturen erkundet. Besonders interessant ist dies bei "Tickling", wo man durch Toene und Grafiken in Echtzeit die geisterhafte Empfindung erhaelt, von einer grafischen Hand auf dem Bildschirm gekitzelt zu werden.

Es ist eine wichtige Frage, eine grundsaetzliche Frage, ob die Wahrnehmung der Erde im gesamten, wenn das Globale und das Lokale vereint ist, aus einem lokal bestimmten Gesichtspunkt, beispielsweise dem Gesichtspunkt Gottes, erfolgen muss. Wenn das der Fall ist, dann bleibt man in der klassischen Vorstellung. Besonders dann, wenn man dieses Bild der Erde aus einer dreidimensionalen Ansicht darstellt, schreibt man es in die klassische totalitaere visuelle Perspektive ein. Die Alternative ist, ganz aus solch einem Bild herauszutreten und sich auf diese Ganzheit in einer ganz anderen Weise, in einer taktilen Weise zu beziehen.

Nichts wird uns kuenftig daran hindern unserem Koerperbild, das noch immer als ein Buendel Knochen, Fleisch und Nerven in einer Haut von unserer Groesse verstanden wird, mit einem Bild zu ergaenzen, das auch die Wahrnehmungen, Gefuehle und Gedanken im weitesten Sinne einschliesst. Um damit zu beginnen, sollten wir uns daran erinnern, dass jeder von uns mit der Welt gaenzlich durch die Elektrizitaet verbunden ist. Diese aber ist kein visuelles, sondern ein taktiles Phaenomen. Die Elektronen bewegen sich nicht mit hoher Geschwindigkeit im Raum, sondern sie stossen sich von einem Ende zum anderen der Kette, aus der sie bestehen, sehr schnell an. Dadurch koennen wir uns sehr in betraechtlicher Weise ausdehnen, aber ohne mehr aufeinanderzustossen als dies die miteinander durch elektromagnetische Wellen verknuepften Kommnunikationsnetze machen. Wir beruehren immer und ueberall die Oberflaechen und die Tiefe der Erde und der Menschen, aber dies geschieht jedes Mal in einer einzigartigen Konfirguration bei jedem von uns. Mit ihrer versuchsweisen Umrundung der Erde schlagen uns die Kuenstler der neuen Sensibilitaet ein neues Handlungsfeld vor: Sie entdecken eine orbitale Huelle fuer das planetarische Denken. Das Netz der Satelliten bietet uns eine neue Haut an.

Die Taktilitaet der Statistiken

Mich fasziniert oft ein selten beachteter taktiler Aspekt an den grafischen Darstellungen von Statistiken. Sie geben die Formen durch ihre Umrisse, durch ihre Dichte an. Wie bei der Darstellung der verschiedenen Hoehenlagen auf einer geographischen Karte ist etwas detso hoeher oder tiefer, desto dunkler es ist. Wenn die Zahlen, die als Basis der Erhebungen dienen, reel sind, dann sind die durch sie gewonnenen statistischen Projektionen keine wirklichen Zahlen mehr. Keine Schaetzung der Informationsmenge kann an einer statistischen Analyse vorbeigehen. Man kann keine OEkonomie des Sampling oder der Erhebung ohne die mindeste mentale oder physische Handlung ausfuehren. Der taktile Sinn ist daher selbst statistischer Natur. Das ist die Wirkung einer hinreichend strengen Annaeherung, die eine hoehere Organisationsebene mit Informationen versorgt.

Weil uns die Zukunft mehr und mehr von der Welt mit immer weniger Platz zur Darstellung oder Ausstellung verspricht, wird man verpflichtet sein, jeden noch so geringen Bezug zur Welt statistisch zu behandeln. Das ist so, als waere man andauernd auf dem Strahl X, als wuerde ein Scanner, der, ausgehend von Zahlen, eine wichtige oder nuetzliche Information aufnimmt, sich vom Koerper, vom Geist, vom Denken projizieren. Die Zahlen markieren einen Umriss und verleihen so der Realitaet eine Textur, gleich ob das politische oder wirtschaftliche Erhebungen sind oder statistische Zahlen ueber die Anzahl der Internet-Benutzer, ueber die Menschen, die eine Datenbank an diesem Tag ueber dieses Thema angefragt haben ... Diese ganze Statistik gibt uns ein kollektives Profil, das zu uns nicht unter einer visuellen Form kommt, die sich von der Welt abloest, sondern wie eine UEbersetzung des Taktilen, wie eine angemessene numerische UEbersetzung, wobei numerisch im Sinne von Beruehren verstanden werden sollte.

Heutzutage verkomplizieren sich die Dinge und die Kuenstler haben sehr viel zu tun. Unsere Maschinen ueberholen uns. Sie sind schneller und wirken weitraeumiger. Aber es sind eigentlich wir, wie ich dies vorhin schon gesagt habe, die durch sie schneller werden und weitraeumiger wirken als wir. Wie sollen wir uns von dieser Zweideutigkeit, von dieser Unsicherheit hinsichtlich unerer wirklichen Grenzen, unserer wirklichen Kraefte und vor allem unserer wirklichen Identitaet befreien? Der Bezug zwischen Koerper und Maschine siedelt sich auf zwei Ebenen an. Die erste Ebene ist ziemlich einfach und direkt; man spricht von Robotern oder von Verstaerkern. Erstere sind ganz solide und beruehrbar, und, wie Akteure aus Fleisch und Blut, empfaenglich fuer alle Nuancen und Variationen. Man kann sie je nach der schoepferischen Inspiration alles machen oder bedeuten lassen, was man will. Letztere sind neuer und befinden sich oft hinter dem Szenenaufbau oder dem Bildschirm. Diese Maschinen oder virtuellen Partner sind ein Teil der schoepferischen Quelle und naehern sich uns im Augenblick der Erfindung selbst, waehrend das Bild vor der Geste, die es zeichnet, ausgearbeitet wird. Auf der zweiten Ebene vertieft sich die Erforschung der neuen Welt der Maschine und des Koerpers. Die Worte und die Ideen veraendern sich unter dem Druck der Empfindungen, der neuen Intuitionen: "Eigentaeuschung", "Autonomation", das sind hybride Begriffe fuer hybride Wesen zwischen dem Denken und dem Koerper, zwischen der Intimitaet und dem Fremden, die weder Fleisch noch Maschine sind.

Eigentaeuschung

Die Idee der Eigentaeuschung spielt auf die Taeuschung, auf den Trug der Simulation an, der keiner ist. Es gibt die Wahrheit und den Trug der Simulation. Weil es Eigenwahrnehmung gibt, gibt es auch Eigentaeuschung. Tatsaechlich verlagert sich die organisch-teschniche Problematik. In dem Masse wie Maschinen dem Koerper zusaetzliche Informationen geben, erzaehlen sie zur selben Zeit, in der sie uns die Wahrheit mitteilen, Luegengeschichten. Warum Luegengeschichten? Weil es immer Simulationen sind. In der Virtuellen Realitaet haben wir Handschuhe und Sichtgeraete, und alle Wahrnehmungen sind vom Computer hergestellt worden. Also sind es Luegen. Aber in Wirklichkeit ist das ueberhaupt nicht der Fall, denn die Simulation ist eine Luege und eine Wahrheit. Weil die Simulation in ihrer Sprache mit jedem unserer Sinne spricht, ist sie auch real. Sie ist die Schnittstelle - buchstaeblich und bildlich - zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Uns ist es noch nicht gelungen, diese zusaetzliche Komplexitaet fuer uns aufzuloesen. Deswegen schlage ich den Begriff der Eigentaeuschung vor, weil diese gleichzeitig wahr und unwahr ist. Wir muessen uns mit diesem doppelten Angesicht der neuen Welt stellen, diesem vom Computer unterstuetzten Menschen.

Schauen wir uns ein erstaunliches Beispiel dieses Paradoxons an, das es durch die Videokonferenztechnik bereits in unserer Lebenswelt gibt. Das spannendste und umstrittenste Beispiel fuer die Erfahrung einer virtuellen Beruehrung ist die Arbeit Telematic Dreaming von Paul Sermon, der sich in einer Videokonferenzschaltung auf einem virtuell gemeinsamen Bett mit einer sehr realen Partnerin am anderen Ende der Leitung zeigt. Die Installation von Sermon ermoeglicht es zwei Menschen, sich im virtuellen Raum des Bildschirms zu begegnen. Wie die Taenzer im Pas de deux interactif zwischen Toronto und Charlerol (Vincent John Vincent und Kathleen Richardson im April 1994) koennen sich hier zwei Menschen, aber in einem verwirrenderen Grad an Intimitaet, koerperlich in Echtzeit ueber einen gemeinsamen Bildschirm suchen, auch wenn sie Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind. Man sieht ihre Haende sich suchen, ihre Blicke sich treffen, als befaenden sie sich am selben Ort. Das sind sie auch wirklich, aber diesen Ort gibt es nicht. Aber es gibt ihn doch, da er sich vor unseren Augen befindet, auf dem Bildschirm, wo nichts erfunden, produziert oder gar simuliert wird, da die Praesenz dieser beiden ganz real ... ganz virtuell da ist. Geben wir zu, dass das, was unsere Vorstellungskraft herausfordert, ganz deutlich vor unseren Augen stattfindet. Wir koennen glauben, was wir sehen, denn dies passiert in eben dem Moment, den wir gerade erleben. Aber wer erfaehrt die taktile Empfindung, die Eigenwahrnehmung? In unserer Rolle eines Zuschauers passiert uns nichts anderes als das, was uns auch vor dem Fernseher passiert. Wir muessen der Erfahrung dieser taktilen Empfindung in unserem Erleben gewissermassen Kredit gewaehren, genauso wie wir die Erfahrung des Taenzers erleben, der sich der Ballerina bemaechtigt, oder die des Helden, der auf dem Bildschirm kuesst oder kaempft. Doch was empfinden die Akteure dieser elektronischen virtuellen Begegnung? Ist die Eigentaeuschung, die Eigensimulation nicht eine neue Infragestellung unserer koerperlichen und geistigen Grenzen?

Autonomation

Der Begriff der Autonomation geht aus einer hybriden Verbindung der Begriffe der Autonomie und der Automation hervor. Die natuerliche Kondition des Lebenwesens ist es, autonom zu sein, d.h. in seinen Gesten, seinen Entscheidungen, seinem Auswahlverhalten unabhaengig zu sein. Die natuerliche Kondition von Automaten ist es, unseren Gesten, unseren Entscheidungen, unserer Wahl zu gehorchen. Aber sind Automaten natuerlich? Das wird sich zeigen. Was jedenfalls "natuerlich", zumindest aber "normal" fuer mehr und mehr Automaten und Roboter werden wird, ist der Erwerb einer bestimmten Unabhaengigkeit, einer neuen Autonomie, die komplexer, freier und schoepferischer ist als die der alten und schweren Apparate seit Vaucanson bis hin zum mechanischen Klavier. Wir befinden uns an der Morgendaemmerung von "neuro- mimetischen" Systemen, von solchen Computern, die wie das menschliche Gehrin und das menschliche Nervensystem lernen, sic erinnern, konstruieren, erfinden und planen, ohne dass man mit Gesten oder Schritten eingreift. Die Maschine beobachtet uns. Es geht also darum, den Blick, das Gehoer zu verfeinern, es dem Roboter zu ermoeglichen, Toene zu unterscheiden ... Sehen, Hoeren, Sich-Bewegen, Beruehren wird untersucht. Die Robotik ist immer eine Veraeusserlichung von irgend etwas - von der Hand, von Krallen, von Zaehnen, von Ohren. Das sind spezialisierte Funktionen, die Energie benoetigen. Zwischen der Handbewegung und dem Werkzeug geht eine Energie von der Hand, vom menschlichen Koerper ueber. Der Roboter wird in dem Moment geboren, indem es moeglich wird, genuegend Energie aufzuwenden, um das Werkzeug vom Koerper zu loesen. Mit den Robotern veraendert sich zunaechst, dass die bewegende Kraft von der sie steuernden Handbewegung unabhaengig wird. Eine zweite Verschiebung vom Zentrum zur Peripherie des Koerpers im Roboter betrifft die Intelligenz. Diese zweite Veraenderung wird ein autonomes Subjekt schaffen. Wir leben in einer Kultur, die von der Beherrschung der Energie und der koerperlichen Kraft zu der der Planung, der geistigen Kraft und der Intelligenz uebergeht. Diese Verschiebung der Intelligenz fuehrt die Autonomation ein. Die Schaffung dieses neuen technischen Subjekts stellt ipso facto die fundamentale Autonomie des westlichen Typs des Subjekts in Frage, das wir noch immer zu sein glauben.

Angesichts der Robotik sind die Kuenstler beunruhigt. Der Roboter ist viel beunruhigender als all die anderen Maschinen, da man sie genau deswegen erfundenhat, weil sie ein treuer Spiegel der menschlichen Wirklichkeit sind. Der Roboter aengstigt uns, weil er uns zutiefst bedroht. Und was macht der Kuenstler im Unterschied zum Wissenschaftler, Philosophen, Techniker oder Politiker? Er will uns die genaue Antwort in Bezug auf unsere eigenen Maschinen finden lassen. Er versucht uns in Bezug auf unsere eigenen Geschoepfe, die unglaublich tyrannisch sind, zu situieren. Der Blick des Kuenstlers ist ein grundsaetzlicher Blick auf den Bezug zwischen dem Menschen und seinen Erfindungen.

Naoko Tosa, eine japanische Kuenstlerin, hat mit Neuro-baby einen graphischen Roboter und ein Kunstwerk von langer Dauer geschaffen. Neuo-baby lernt, dank einen lernenden neuro-mimetischen Systems, wie ein organisches Baby ausgehend von dem zu sprechen, was es um ihn herum wiederholt gehoert hat. Es kann bereits einige Worte nach weniger als einem Jahr seiner paradoxen Existenz aussprechen. Das im Bladerunner fuer das Jahr 2019 angekuendigte Zeitalter der "Replikanten" naehert sich - viel schneller, als man dies geglaubt hatte, waehrend der Film in die Kinos kam. Dank der durch das Virtuelle gespeisten Innovationen und den Versprechungen der neuro-mimetischen Systeme kann man schon vorhersehen, dass sich die Simulation des Koerpers und der Muskeln mit der immer maechtiger werdenden Simulation der kuenftig erschwinglichen Leistungen auf unseren Bildschirmen verbinden wird.

Der "Lebenspunkt"

Der exklusive und fragmentarische "Gesichtspunkt" des gelehrten Renaissancemenschen beginnt dem multiplen und inklusiven "Lebenspunkt" des globalen Menschen zu weichen. Der Mensch der Geschwindigkeit hat keine perspektivische Sicht mehr, weil er gleichzeitig ueberall ist. Der "Lebenspunkt" schliesst den Koerper und den Geist in eine einzige Synthese zusammen, mit der sich eine immer genauere, anspruchsvollere und schaerfere Wahrnehmung unserer Umwelt verbindet. Aber er ist nicht zentralisiert. Ausgehend von unserem multiplen Sein koennen wir das Netz unserer Wahrnehmungen, das sich ueber die ganze Oberflaeche der Erde erstreckt, steuern, ohne die Rechte, den Besitz oder die Prioritaeten von irgendjemanden zu verletzen. Der Mensch der Geschwindigkeit muss keinesweg wie der Mensch der Masse sein Bild verbreiten. Er muss nicht einmal seine private Identitaet aufgeben. Ganz im Gegenteil.

Was wird aus der Verschiebung von einem Gesichtspunkt zu einem Lebenspunkt ergeben? Wenn die Frage nach dem Sinn so verstoerend ist, dann ist dies die nach der Bedeutung noch viel staerker. Wissenschaft und Technik kreisen um den Sinn. Der Techniker sucht nur technische Wirkungen zu erzeugen, aber der Sinn entsteht aus dem Umgang mit dem Objekt. Eben hier greift die Kunst ein und zeigt, wie es ist, in der Welt zu sein. Bislang scheintg nur der Kuenstler in der Lage zu sein, uns zu sagen, das der Lebenspunkt mit unserer Eigenwahrnehmung zusammenfaellt. Der Lebenspunkt ist der Punkt der Eigenwahrnehmung. Von ihm ausgehend weiss man, dass man etwas ist. Man hat einen Koerper, man empfindet seinen Koerper, man empfindet von innen. Welche Erweiterung man auch immer diesem Koerper durch irgendeine Schnittstelle gibt, so befindet man sich immer durch die Eigenwahrnehmung im Raum, der sich zwischen dem am weitesten entfernten Ort der Geste und dem Ursprungsort, der der eigene Koerper ist, erstreckt. Welches Bild auch immer von dem Objekt oder von dem Instrument, das man zur Kommunikation einsetzt, oder von der Stichprobe (denn das ist immer auch eine Stichprobe) ausgeht, so wird es nicht wie ein Punkt, sondern wie eine Oberflaeche, wie eine Ohrfeige, wie eine Liebkosung, wie ein koerperlicher Schock zu uns zurueckkehren. Wie auch immer die Art und die Textur dieser Rueckkehr beschaffen sein mag, sie wird immer eine taktile Beziehung zur Welt sein. Die Welt als Erweiterung der Haut ist viel interessanter als die Welt als Erweiterung des Blicks.


Thema
Leserbrief an die Redaktion.