So wie wir gewohnt, wo nicht unterworfen sind, Energie in verschiedenen Formen bei uns daheim zu empfangen, so werden wir es sehr einfach finden, dort auch jene überschnellen Veränderungen oder Schwingungen zu erhalten oder zu empfangen, aus denen unsere Sinnes organe, die sie aufnehmen oder inte grieren, alles machen, was wir wissen. Ich weiß nicht, ob Philosophen je von einer Gesellschaft zur häuslichen Aus breitung von Sinneswirklichkeit geträumt haben.
Paul Valéry
HAUPTSTADT.Der Name sagt es schon: Hauptstädte oder Kapitalen sind vom menschlichen Körper her benannt. Der Staat (seit den Griechen) heißt Organismus, die Hauptstadt sein Kopf. Sie gehört folglich zu einem Chef, dessen Name ja wieder nur Kopf besagt.Historisch wird diese Gleichung wahr gewesen sein. Was Mumford die vorgeschichtliche Implosion von Dörfern und Landstrichen zur Stadt nannt, folgte nach seinen Belegen nicht etwa aus ökonomischen Notwendigkeiten, sondern aus dem Waffenmonopol eines Fürsten. Platon als Gesetzgeber einer idealen Stadt beschränkte ihre Größe auf die Reichweite einer Stimme, die Gesetze oder Befehle gab. Und lange Zeit - von den prähistorischen Städtegründungen, mit denen Hochkultur oder Geschichte überhaupt begannen, bis hin zu den barocken Residenzstädten - blieb der militärisch- administrative Kopf architektonisch erkennbar: in Burgberg oder Akropolis, Zitadelle oder Schloß. Erst mit der ersten industriellen Revolution soll eine Wucherung eingesetzt haben, deren Geschwüre in Mumfords Augen dann das Gesicht der Stadt auflösten und im Namen reiner Technologie über die ökologischen Notwendigkeiten des Zusammenlebens hinweggingen: Megalopolis. Nur ist bei Beschreibungen eines Abwegs womöglich die Beschreibung selber auf Abwegen. An der kenntlichen Zentralität eines Kopfes festzuhalten, heißt vielleicht bloß, daß auch beim Konzept der Hauptstadt ( wie nach Foucaults These "im politischen Denken und in der politischen Analyse" ) "der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt ist". Die Monarchien, denen Europa seine meisten Hauptstädte dankt, hätten über die Architektur hinaus auch im Kopf der Theorie selber für ihr Nachleben gesorgt. Und wenn doch "der Mensch" mit seinen ökologischen Notwendigkeiten nur ein Miniatur nachbild jenes Fürsten wäre, käme eine Möglichkeit in Sicht, Haupt und Hauptstadt aus der Technologie und nicht umgekehrt zu entziffern. TECHNOLOGIE.Was Passantenaugen wie Wucherung oder Entropie vorkommt, ist Technologie und heitßt Information. Seitdem Städte nicht mehr vom Münsterturm oder Schloß aus zu überblicken und nicht mehr von den Mauern oder Befestigungen eingeschlossen sind, durchzieht und verschaltet sie ein Netz aus lauter Netzen - auch und gerade an Rändern, Tangenten und Fransen. Gleichviel, ob diese Netze Information oder Energie übertragen, also Telephon, Radio, Fernsehen oder Wasserver sorgung, Elektrizität, Autobahn heißen - Information sind sie allemal. (Schon weil jeder moderne Energiefluß parallel dazu eine Steuernetz braucht. ) Aber auch in jenen unvordenklichen Zeiten, als Energie noch Lastenträger wie Sindbad und Information Boten wie bei Marathon brauchte, gab es diese Netze nicht nicht. Sie waren nur nicht alle gebaut oder implementiert, wie der Technikerjargon sagt. Die dürftige Spur eines Eselpfades im Gestein ersetzte Schienen oder Autobahnen, die nicht minder flüchtige des Boten Kupfer- oder Glasfaserkabel.NETZE.Deshalb liegen auf der Kehrseite der Bauten, im Offenen der Stadt ihre Strukturen, die allemal Netze sind. Um den Weg aus einem Labyrinth (wie die Griechen es aus den verfallenen Stadtgrundrissen von Knossos, Phaistos oder Gournia abgelesen haben sollen) zu rekonstruieren, tut man gut, statt der sichtbar verbundenen Mauern gerade das Umgekehrte: die unsichtbaren Verbindungen zwischen Wegen und Toren aufzuzeichnen. Woraufhin (im mathematischen Wortsinn) ein Baum entsteht, dessen Gabelungen die Sackgassen von den Ausgängen kenntlich unterscheiden.Oder man konstruiert wie Claude Shannon als Chefmathematiker der Bell Telephone Labs eine mechanische Maus, deren Schnautze das Labyrinth nach der Methode von Versuch und Irrtum durch stöbert. Woraufhin die Maus imstande wäre, Stadtplanungen auch ohne Ariadnefaden zu optimieren, Shannon selber allerdings etwas Unsichtbares optimiert hat: die Telephonnetze Amerikas. GRAPHEN. Erst seit 1770 hat die Mathematik begonnen, mit solchen Netzen zu rechnen. Topologie und Graphentheorie bilden die Moderne nicht nur ab, sie haben sie gestartet. Damals führten in einer Stadt, die noch Königsberg hieß, sieben Brücken über den Pregel. Eine Stadt ist eben nicht nur "das Korrelat einer Straße" (Deleuze/Guattari), sondern in ihrer Vernetzung mit Flüssen, Kanälen und Nachrichtenwegen "die Kreuzungsstelle aller dieser Bahnen" (Heidegger). Was Leonhard Euler, den vom mittelalterlichen Basel zur neuen Hauptstadt St. Petersburg berufenen Mathematiker zu der Frage bewog, ob es möglich wäre, auf ein- und demselben Rundweg alle sieben Pregelbrücken genau einmal zu überqueren. Eulers Beweis, daß es nie und nimmer geht, löste die erste Frage einer Mathematik, die von topographischen Daten wie Straßenlängen, -krümmungen und -winkeln völlig absieht, den Stadtplan Königsbergs also genausogut auf ein beliebig dehnbares Gummituch hätte zeichnen können. In der Graphentheorie gibt es nur die zwei abstrakten Elemente von Ecke und Kante, aus denen dann aber alle Strukturen des Räumlichen widererstehen: Bäume und Sterne, Knoten und Brücken, Ringe und Henkel, Gegenden, Länder und Landkarten. Place de l'Etoile, Ringstraße, Anulare: inzwischen kennen wir sie alle, diese Graphen. Stadtverkehrskarten verzeichenen Straßen und Schienen ja auch nicht mehr konkreter als jene Gummituchgeometrie. "Der Raum, in dem die moderne Stadt ihre Struktur entfaltet, ist ersichtlich ein abstrakter Raum, wo die einzigen Zwänge von topologischer Ordnung sind; von der Entfaltung dieser Struktur her gesehen, ist das Territorium einfach eine Oberfläche ihrer Aktualisierung" (Gille). Was damit nach der topographischen Leidenschaft des 19. Jahrhunderts und das heißt der Generalsstäbe, wiederkehrt, gleicht den ältesten Landkarten: Auf der Tabula Peutingeriana, die ja das nachmalige St. Pölten als Relaisstation der römischen Staatspost verzeichnete, waren die Nord-Süd-Abstände (wohl um das Medium Landkarte selbst leichter über Land zu transportieren) so sehr gestaucht, daß vom Land, Meer und Gebirge kaum Spuren blieben. Ein Imperium, das römische, als reine Medienlandschaft. KREUZUNGEN.Immerhin, Straßen zwischen Städten waren die einzige Verbindung, die die Peutingeriana verzeichnete. Von anderen Lebensadern wie Aquädukten oder gar den "schattenlosen Straßen" der See, wie Hölderlin schrieb, konnte die römische Staatspost absehen. Grenzstädte blieben also Ecken einer Kante, Relaisstationen Ecken von zwei Kanten, während Rom, wohin alle Straßen ja sprichwörtlich führten, die Ecke eines ganzen Kreuzungssystems bildete. Aber weil das Straßensystem von keinem anderen geschnitten wurde, reichte eine Ebene zur Darstellung des Graphen. Die technologische Wucherung von lauter Medienkanälen verbietet genau das. In einem bekannten Schulbeispiel sollen drei Häuser an drei Energieversorgungssysteme - Gas, Wasser und Elektrizität - angeschlossen werden, ohne daß auch nur eine dieser Leitungen eine andere kreuzt. Aber dieser sogenannte GEW-Graph ist kein ebener; man könnte die verschiedenen Leitungen nicht "plätten". Eine Stadt ist kein plättbarer Graph. In ihr überlappen sich Netze mit Netzen. Jede Verkehrsampel, jeder Umsteigebahnhof und jedes Postamt, aber auch alle Kneipen oder Bordelle erzählen davon. Deshalb gibt es Brücken nicht nur über den Pregel und Eisenbahnviadukte nicht nur über die Traisen. Sicher haben moderne Stadtplaner versucht, die Netze von Chandigarh, Brasilia und anderen Neugründungen am Muster des Baum-Graphen auszurichten, dessen Äste und Zweige Kreuzungen ja nicht kennen, also plättbar sind. Aber "eine Stadt ist kein Baum", sondern ein "Halbgitter", dessen Überlappungen zum System selber gehören (Alexander). HAUPTSTÄDTE potenzieren diese Regel nur noch. Es ist nicht allein der Staat mit seinem Limes oder Grenzsystem, seiner selbstinduzierten "Resonanz" also (Deleuze/Guattari), der sie definiert. Sondern in Hauptstädten überlappen sich: Netze zwischen den Städten und Netze zwischen den Städten. In, auf und über der Erde verknotete Knoten spotten jeder Plättung. Mit Umsteigen und Umschalten vergeht die hauptstädtische Zeit. Pariser Leben von Offenbach (1866) war das erste Theaterstück, dessen erster Akt in einem Bahnhof spielte (Benjamin). In Wien verschaltete das kaiserliche Österreich das Kreuz seiner vier europäischen Aufmarsch-Eisenbahnen und ihrer Sackbahnhöfe mit einem Stadtbahnring, der seinerseits an Schmalspurbahnen und das Umland angeschlossen war. Die schiere Frequenz von Kreuzungsereignissen sorgt in Hauptstädten und Metropolen für jene Tyche, Fortuna oder Gelegenheit, die Valéry beim Erwachen in Paris zunächst wie ein unaufhörliches Meeresrauschen träumte, um sie dann als Bedingung aller glücklichen Zusammentreffen zu feiern. Ohne den gerollten Kopf des Königs gedacht, ist die Hauptstadt "Tochter der großen Zahl" (Valéry).Zur Berechnung, Speicherung und Übertragung von Zahlen gibt es aber MEDIEN. Eine griechische Stadt, vermutlich Milet, hat unsere ältesten Medien hervorgebracht: die Münze und das Vokalalphabet (Lohmann). Rom, um aus einer Stadt zum Staat zu werden, übernahm das ausgebauteste aller orientalischen Übertragungsmedien: die Staatspost der Achämeniden (Innis). Weshalb unsere Begriffe für Medien, wenn sie nicht wie "Herz" oder "Gehirn einer Schaltung" vom Körper abgelesen sind, noch immer von der Stadt lernen. Seit der junge Shannon die Schaltalgebra Georg Booles mit ein paar Telegraphenrelais implementierte, heißen ihre logisch einfachsten Elemente, die noch kein Gedächtnis haben, Tore oder Gatter. Schaltwerke dagegen, deren Ausgang eine Funktion nicht nur der Gattereingänge, sondern auch der eigenen Vorgeschichte ist, setzen (nicht minder städtisch) eingebaute Speicher voraus. Als ferner John von Neumann, der Mathematiker des zweiten Weltkriegs usw., dieses Prinzip sequentieller Abarbeitung oder Berechnung fast allen Computer-"Architekturen" von heute unterlegte, erhielten die Parallelkanäle zwischen Recheneinheiten, Toren und Speichern den schönen Namen Bus, der ja nur eine Ordnung des Großstadtverkehrs seit dem Biedermeier fortschreibt (Benjamin). Und seitdem schließlich nach von Neumanns exaktem Orakel nur noch Computer selber imstande sind, ihre eigene und klügere Naqchfolgegeneration zu entwerfen, weil die Verwicklung der nötigen Netze über das Planungsvermögen selbst von Ingenieuren geht, gibt es Computerprogramme names Routing: Netzwerkentwurf, wie bei Shannons Maus, läuft als Straßenbahnung (mit allen Problemen der Kreuzungsfreiheit und Mehrgeschossigkeit). Daraus entstehen ganze Städte von Silizium, Siliziumoxid und Golddraht. Ihre Zellen oder Häuser aber bemessen sich nach Molekülen, deren Gesamtfläche auch nach milionenfacher Wiederholung kaum über Quadratmilimeter hinausgeht. Technische Medien minituarisierten die Stadt ganz so, wie sie sie auf die Entropie von Megalopolis vergrößern. Obsolet erscheint nicht nur das altehrwürdige Modul Menschengröße, wie die Moderne es zum bekannten Leidwesen in Parkhäusern oder Flughäfen längst durch verkehrstechnische Moduln ersetzt hat, sondern Modularität überhaupt. Genau dem trägt die Graphentheorie Rechnung. Je mehr man eine Hauptstadt wie Paris denkt, schreibt Valéry, desto mehr weiß man sich von ihr gedacht. Kein System aber beherrscht sich selbst, auch die Stadt und das Modul nicht. Trifftiger ist es darum, in einem grauen Feld ohne Maßstäbe Netze ohne Bewertung zu verschalten, Abschied zu nehmen von MUMFORDS ABSCHIED. "Dank ihrer Versammlung von physischer und kultureller Macht erhöhte die Stadt das Tempo menschlichen Verkehrs und übersetzte seine Erzeugnisse in Formen, die gespeichert und reproduziert werden konnten. Durch ihre Monumente, Schriftaufzeichnungen und geordneten Versammlungsbräuche erweiterte die Stadt den Umfang aller menschlichen Tätigkeiten, die sie vorwärts und rückwärts in die Zeit ausdehnte. Mittels ihrer Speichereinrichtungen (Gebäude, Gewölbe, Archive, Monumente, Schrifttafeln, Bücher) wurde die Stadt fähig, eine komplexe Kultur von Generation zu Generation zu überliefern, denn sie führte nicht nur die physischen Mittel zusammen, sondern auch die menschlichen Agenten, die zur Weitergabe und Erweiterung dieses Erbes nötig sind. Dies bleibt die größte unter allen Gaben der Stadt. Im Vergleich mit der komplexen menschlichen Ordnung der Stadt sind unsre gegenwärtigen raffinierten Elektronik-Mechanismen zur Speicherung und Übertragung von Information grob und beschränkt". So klar vermerkt Mumford, daß Städte mit Computern vergleichbar oder kompatibel, also Medien sind. Aber was den Vergleich und seine Auflistungen trägt, sind nur Funktionen der Informationsspeicherung und -übertragung, die überdies auf Diachronie beschränkt bleibt und gleichzeitig Netze unterschlägt. Die grundlegende dritte Funktion der Informationsverarbeitung dagegen (wohl weil sie den humanistischen Bewertungen Mumfords ihren Grund entzöge) wird gar nicht erst statuiert. Als hätte der Städtehistoriker seine Einsicht vergessen, daß es zur Größe des alten Florenz auch gehörte, mit den Uffizien das erste Bürohaus, also eine magistrale Datenverarbeitungszentrale eingerichtet zu haben. MEDIEN. Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Information - nichts anderes ist die elementare Definition von Medien überhaupt. Unter sie fallen so altmodische Dinge wie Bücher, so vertraute wie die Stadt und so neue wie Computer. Nur daß die Computerarchitektur von Neumanns diese Definition zum ersten Mal in der Geschichte (oder als ihr Ende) technisch implementiert hat. Ein Mikroprozessor enthält Recheneinheiten, Speicher und Busse nicht nur auch, sondern ausschließlich. Die Recheneinheit führt logische oder arithmetrische Befehle nach Maßgabe des Programmspeichers aus; die Busse übertragen Befehle, Adressen und Daten nach Maßgabe der Recheneinheit und ihres letzten Befehls; der Speicher schließlich erlaubt es, Befehle oder Daten unter eindeutig bestimmten Adressen auszulesen oder auch einzuschreiben. Dieses Netz aus Verarbeitung, Übertragung und Speicherung, anders gesagt: aus Befehlen, Adressen und Daten reicht hin, um alles zu berechnen, was (nach Turings berühmtem Beweis von 1936) überhaupt berechenbar ist. Die Entwicklung technischer Medien, wie sie vom digitalen Übertragungsmedium Telegraphie über die analogen Speichermedien Schallplatte und Film zu ihren Übertragungsmedien Radio und Fernsehen führte, kommt an ein lo gisch perfektes Ende. Alle anderen Medien sind in die Diskrete Universale Maschine grundsätzlich überführbar. Grund genug auch, das Funktionieren der Stadt auf Begriffe der allgemeinen Informatik zu bringen. Grund genug, noch die vergangenen Medien und historischen Funktionen des sogenannten Menschen als ein Spiel zwischen Befehlen, Adressen und Daten zu entziffern. DATENkönnen dabei beliebige Variablen sein, wenn sie nur ein definiertes Format haben (analog oder digital, Bytes oder Words usw.). Von Neumann-Maschinen können Zeichenketten, die für Zahlen stehen, und Zeichenketten, die für Buchstaben stehen, an ein und demselben Speicherplatz ablegen. Entsprechend erlaubte es ein kaiserlicher Reformbefehl vom 12. Jänner 1782, in der Stadt St. Pölten "das nur dem beschaulichen Leben dienende Karmeliterinnenstift (mit 19 Nonnen) aufzuheben, die Räumlichkeiten für das Knabenerziehungshaus des Regimentes Pelegrini und für Garnisionszwecke zu verwenden, die Schmuckgegenstände und rituellen Objekte der Kirche teilweise einzuziehen, zu verkaufen oder zu verschenken und diese selbst als Magazin einzurichten" (Herrmann). Aus einem Speicher, der samt seinen Objekten für die Ewigkeit eingerichtet war, wurde also ein Speicher mit wahlfreiem Zugriff, der fortan zur disziplinierenden Mobilmachung von Truppen und Schülern diente. Im Computersystem entspricht den schreib-lese-kundigen Knaben ersichtlich der Schreib-Lese-Speicher (Random Access Memory) für variable Daten, den rituellen Objekten dagegen der Festwertspeicher (Read Only Memory) für Programmbefehle und Konstanten. Die sogenannte Spätaufklärung als Revolution von oben, in Österreich nicht anders als in norddeutschen Ländern, tauschte einfach Speichertypen aus und installierte damit ein System, das Information nicht nur speichern, sondern auch löschen kann: vom Radiergummi über das "Individuum" bis zur Hauptstadt. Seitdem darf oder soll vergessen werden, daß die Stadt als Gegebenheit oder Datum früher einmal ohne Staat auskam. Heikler als der Austausch von Daten ist der von Datenformaten. Im Fall Stadt legen ja schon die Moduln, nach denen sie gebaut ist, ein solches Format fest. Die Eisenbahnhöfe, die (nach einem Wort Napoleons III.) in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den neuen Stadttoren aufstiegen, konnten die eben geschleiften Tore nicht so einfach umfunktionieren wie Joseph II. Österreichs Klöster. Stadttore waren Ein/Ausgabestellen eines Postsystems gewesen, dessen Kutschen gleichermaßen Personen, Güter und Nachrichten beförderte, also Adressen, Daten und Befehle. Die Eisenbahn aber nahm der Post den Personen- und Güterverkehr nicht bloß ab, sondern gab ihm ein neues Modul oder Format: In der ersten Klasse mobilisierte sie Offiziere, in der zweiten Unteroffiziere und in der dritten die Mannschaften eines Bataillons (Hedin). Das hieß dann in Benjamins euphemistischer Rede über "die geschichtliche Signatur der Eisenbahn": Sie sei "das erste - und bis auf die großen Überseedampfer wohl auch das letzte - Verkehrsmittel, welches Massen formiert". Aber es gibt auch Stadtverkehr und Automassen, die formiert oder formatiert sein wollen. Richard Euringer, der Vorsitzende des Nationalverbandes Deutscher Schriftsteller, hoffte zwar noch 1935, jene "Zusammenstöße, Beschädigungen, Verletzungen und Stockungen", die aus "Freiheit der Selbstbewegung" oder Automobilität ja entspringen, durch Straßenverkehrsordnung und "Führerprinzip" regeln zu können. Ingenieure aber wissen es besser. Ein Computergatter heute, allen binären Mythen oder Horrorgeschichten zum Trotz, nimmt nicht zwei, sondern drei Schaltzustände ein: neben dem positiven Zustand 1 und dem negativen Zustand 0 noch einen Zustand hoher Impedanz, der die betreffende Datenquelle von ihrem Ausgangskanal isoliert und es damit erlaubt, ohne Kollisionen und nach einer kurzen Übergangszeit andere Datenquellen auf denselben Bus zu schalten. Der Zustand Gelb an jeder Straßeneckenampel tut nichts anderes. Im endlosen Wechsel von Grün, Gelb, Rot oder von Eins, Tristate, Null kommen alle Stadtverkehrsflüsse (vom Fußgänger bis zum Bus) auf buchstäblich digitales Datenformat, das ein Computer irgendwo im Stadtrechenzentrum auch noch getaktet hat. Und nur Beobachter aus Einflugschneisen oder Wolkenkratzern - wie Claude Lévi-Strauss in der Megalopolis New York - können hinter der universalen Diskreten Straßenmaschine jenen analogen oder kontinuierlichen Fahrzeugfluß wiedererkennen, der einst Verkehr geheißen hat, mittlerweile aber Frequenz.ADRESSENsind Daten, unter denen andere Daten überhaupt erst erscheinen können. Um einen Computerspeicher auf den Datenbus zu schalten, muß erstens der Adreßbus einen einzelnen Spei cherplatz und zweitens der Befehlsbus den Speicher im ganzen adressiert haben. Medien sind immer nur so gut und schnell wie ihre Verteilerschlüssel. Als Bücher noch antike Endolsrollen waren, ließen sich Stellen kaum nachschlagen. Und auch im Kodex mittelalterlicher Handschriften halfen die Blätterzahlen wenig, weil unterschiedliche Kopistenhände den Text unterschiedlich weit oder eng auf die Einzelexemplare verteilt hatten. Erst Gutenbergs Buchdruck sorgte dafür, daß "diese Seite hier tausend anderen gleicht" (Enzensberger), also durch Index und Register in allen Exemplaren zu finden ist. Mit den Städten war es nicht anders. Erst Polizeipräfekten des Absolutismus (wie La Reynie in Paris) sorgten dafür, daß die handgemalten Zunftschilder an alten Häusern gleiches Format erhielten und schließlich vom Standort der Hausnummer abgelöst wurden. Von der Staatspost über das Selbstwahltelefon bis zum Autokennzeichen arbeiten Medien daran, die Leute durch ihre Adressen zu ersetzen.
Stephan Daedalus, James Joyces fiktiver Doppelgänger, schrieb
aufs Vorsatzblatt ausgerechnet seinesGeographielehrbuchs: Hauptstadtgründung heute heißt einfach, daß an Autobahnkreuzen und Bahnhöfen, in Fahrplänen und Computernetzen eine neue "Zielspinne" entsteht, die den Fluß von Energien und Informationen zentriert. Noch in den zwanziger Jahren sollen mitteleuropäische Städte, um weiter träumen zu können, ihren Namen nur ungern auf Straßenverkehrsschildern gesehen haben. Auch "war es häufig noch so, daß eine Wegebauverwaltung Orte, die außerhalb der engen Landesgrenzen lagen, gar nicht kannte, sie auf Wegweisern deshalb nicht bezeichnete - manchmal sogar aus Absicht nicht" (Kaftan). Erst die strategische Erschließung von Raum überhaupt hat die Zielspinne ins technische Tierleben gesetzt und alle Kanäle nach Vorfahrtsrechten durchnummeriert. Auf Computerbussen sind es Tristate-Befehle, die Vorfahrtsregelungen zwischen "Herren" und "Sklaven" ermöglichen. Auf Landstraßen war es Napoleon, der den Rechtsverkehr einführte, das große Straßenchaos behob und den Marschkolonnen seiner selbständig operierenden Divisionen Nationalstraßen als Pappelreihen einräumte (McLuhan). Bis dann die Eisenbahn den (in Computerbegriffen) bidirektionalen Verkehr ganz einstellt und allen modernen Medien das Vorbild getrennter Fahrspuren gab. Seitdem heißen Treffen Entgleisungen und Passanten wirklich Vorbeifahrer. Nur ein vorerst noch idealer Mittelstreifen, der ab Februar 1916 französische Fußgänger, Fahrräder, Ochsenkarren usw. von einer pappelumsäumten Nationalstraße ausschloß, um statt dessen Munitionsnachschübe rechts und Leichenabtransporte links zu organisieren, rettete die belagerte Stadt Verdun vor der kaiserlichen "Blutmühle". Eine improvisierte Erfindung des Feindes, dem Guderian als Panzerchef der Wehrmacht dann seine Autobahnen mit Mittelstreifen ablernte - den nächsten Weltkrieg im Auge. "Der Gegenstoß - als allgemeine Regel der Kriegskunst - geht nie vom Selben aufs Selbe. Vielmehr tritt gegen die Artillerie der Panzer an, gegen den Panzer der Raketenkampfhubschrauber, usw. Daher hat die Kriegsmaschine einen Innovationsfaktor, der sich von den Innovationen der Arbeitsmaschine sehr abhebt" (Deleuze/Guattari). BEFEHLE, obwohl sie im Anglo-Amerikanisch der Computererfinder pädagogisch bescheiden Instruktionen heißen, sind wahrhaft Befehle. Eine Gleichung ohne Algorithmus, der ihre automatische Ausführung kommandiert, bliebe wie in historischen Zeiten der Findigkeit von Mathematikern überlas sen. Aber die Datenverarbeitung läuft, erübrigt mithin das Genie oder den Chef. Denn in letzter Analyse heißt Befehlen schlicht Adressieren. Das gilt auf der untersten Ebene von Digitalrechnern, im sogenannten Microcode, wo die Patentkriege am härtesten sind; das gilt auf der untersten Ebene des Stadtalltags, wie Althusser ihn analysiert hat; Bürger ist, wen der "He! Sie da!"-Aufruf eines Polizisten auf der Straße zum Stehenbleiben und Umdrehen bringt. Befehlszentren liegen also nicht, wo eine Macht den Wald ihrer höchsten Symbole aufpflanzt. Sie hausen in den viel unscheinbareren Senkrechten, wie jede Brücke sie über nicht plättbare Graphen schlägt. Mögen in Preußen erste Ministerien aus einem zentralen, ja Geheimen Rat hervorgegangen sein, die Bürokratien Kafkas und Österreichs wissen es besser. Die Zentralbehörden seit Kaiser Maximilians Zeiten entstanden beileibe nicht aus den adligen Organen der römisch-deutschen Reichshoheit. Es war eine rein technische Abwicklungsstelle für Österreich, die mit bürgerlichen Juristen an der Spitze als Hofkanzlei schrittweise zur Macht kam. Ihr folgten dann Hofkanzleien auch für Einzelländer, in deren hauptstädtischer Zielspinne Städte und Provinzen aufgingen (Hintze). Macht heißt demnach, Kanäle technischer Datenverarbeitung rechtzeitig zu besetzen. Ihre Zentralität ist eine abhängig Variable von Medienfunktionen und nicht umgekehrt. Am 9. April 1809 erklärte Kaiser Franz II. Frankreich den Krieg. Tags darauf überschritten seine patriotisch mobilisierten Armeen die Inngrenze. Ein Sendschreiben an den bayrischen König mit dem Befehl, das Bündnis mit Napoleon zu kündigen, blieb vergebens; also marschierte die österreichische Kriegsenergie selber der Briefinformation nach und rückte gegen München vor. König Max floh, während der französische Gesandte gerade noch einen Kurier nach Straßburg, wo Napoleons Generalstabschef Berthier Quartier machte, absetzen konnte. Alle Grenzstädte Frankreichs aber waren seit den 14 selbständigen Revolutionsarmeen von 1794 mit der Hauptstadt verschaltet: durch optische Telegraphen, das erste Schnellübertragungsmedium der Geschichte. Also konnte Berthier Telegramme an Napoleon absetzen, Napoleon aus Paris Telegramme an seine Armeen, bis die Franzosen in der Rekordgeschwindigkeit von zwei Wochen München entsetzt hatten. Was den König Bayerns dazu bewog, seine Akademie mit der Entwicklung eines noch verbesserten Telegraphen, des elektrischen, zu beauftragen (Oberliesen). Die Kriegsmaschine Napoleons indessen marschierte weiter nach Wagram und verkabelte Europa mit optischen Telegraphen (ganz wie einst die römische Staatspost mit Pferderelaisstationen). Ausgerechnet Kirchtürme, deren Glocken jahrhundertelang den einzigen Kanal zwischen Macht und Leuten gelegt hatten, wurden umfunktioniert. "An der Nordseite des Domkirchenturms" von St. Pölten installierte die Besatzungsarmee "eine 'telegraphische Maschine', welche zur militärischen Benachrichtigungslinie von Wien nach Straßburg gehörte. Diese bestand aus Militärposten, welche in Stationen von 1 bis 2 Stunden Entfernung auf Türmen und Anhöhen aufgestellt waren und mittels 3 Fahnen von blauer, roter und weißer Farbe sich Signale mitteilten, deren Bedeutung nur den an beiden Endpunkten der Linie befindlichen 'Direktoren' bekannt waren" (Herrmann). Während also eine sehr funktionale Trikolore über Österreichs Städten herrschte, entdeckten feindliche Aufklärungsabteilungen auch Österreichs Land, das Landkarten seit der Peutingeriana ja mehr oder weniger ignorierten. Marschall Marmont aber entsendete eine Vorausabteilung von Kavallerieoffizieren, die auch und gerade Berge, Täler und Sümpfe rund um St. Pölten kartographisch erfaßten, die Weglosigkeit selber mithin für eine neue Schlachtentechnik entschlüsselten. Seitdem können Armeen Städte oder gar Hauptstädte links liegen lassen. Über Mittelgebirge, Sumpfflächen oder Wüstensand fällt der Blitzkrieg seinen Feinden in den Rücken, um nicht mehr Städte, sondern Räume einzukesseln. Voraussetzung sind nur genaueste Landkarten, wie sie anfangs Staatsgeheimnis und nach 1800 ein Monopol der Generalstabsarbeit in Frankreich, Preußen und Österreich waren. Erst der totale Luftkrieg seit 1942 statuiert wieder urbane Zentren. Modul der Zerstörbarkeit ist kein Mensch mehr, sondern für Phosphorbomben eine Stadt, für Uranbomben eine Großstadt, für Wasserstoffbomben schließlich Megalopolis. Die weiten Grünflächen und breiten Ausfallstraßen bundesdeutscher Städte sind dagegen ein schwacher Trost, auch wenn sie aus den Plänen der Weltkriegsarchitektur hervorgegangen sind, dem nächsten Bombenterror vorzubeugen (Durth). Die "unsichtbare Stadt", mit der Mumfords Stadtweltgeschichte endet, besteht also nicht nur in Informationstechnologien, die masselos und lichtschnell arbeiten. Die Computerbefehle zur Auslöschung liegen abrufbereit. "Dies ist das letzte und schlimmste Vermächtnis der Zitadelle (lies: Pentagon oder Kreml) an die Kultur der Städte".
Erstveröffentlicht in: Geburt einer Hauptstadt am Horizont,
hrg. von D. Steiner, G. Schöllhammer, G. Eichinger, Chr.
Knechtl, Wien 1988
Literatur
|