RekonstruktionenWir sind dank der Kommunikations- und Telepräsenztechniken gleichzeitig hier und dort. Bildgebende Verfahren in der Medizin lassen unsere inneren Organe durchsichtig werden. Implantate und Prothesen lassen uns mit anderen und Artefakten verschmelzen. In Erweiterung der Körperweisheit und der klassischen Ernährungskünste erfinden wir heute hundert Mittel, um uns zu schaffen oder neu zu modellieren: Diätik, Bodybuilding, ästhetische Chirurgie. Wir verändern unsere individuellen Metabolismen durch Drogen oder Medikamente, eine Art transkorporeller physiologischer Agenten oder kollektiver Sekretionen ... und die pharmazeutische Industrie findet jeden Tag neue aktive Moleküle. Die Reproduktion, die Immunität gegenüber Krankheiten, die Steuerung der Gefühle, alle traditionellerweise privaten Vorgänge werden öffentliche, austauschbare und externalisierte Leistungen. Von der Sozialisation somatischer Funktionen bis zur Selbstkontrolle der Gefühle oder der Stimmung durch die industrielle Biochemie geht unser körperliches und psychisches Leben immer mehr in eine komplexe "Exteriorität" über, in der sich ökonomische, institutionelle und technowissenschaftliche Kreisläufe vermischen. Die Biotechnologien lassen uns schließlich die existierenden Tier- und Pflanzenarten (und selbst die Gattung der Menschen) als besondere und vielleicht kontingente Zustände inmitten eines biologischen virtuellen Kontinuums sehen, das viel größer und unerforschter ist. Die Virtualisierung des Körpers, die wir heute erleben, ist wie die der Informationen, der Erkenntnisse, der Ökonomie und der Gesellschaft eine neue Stufe im selbstorganisierten Abenteuer unserer Gattung.
WahrnehmungenUntersuchen wir nun im Detail einige körperliche Funktionen, um den Ablauf des gegenwärtigen Prozesses der Virtualisierung aufzuschlüsseln. Beginnen wir mit der Wahrnehmung, deren Aufgabe es ist, die Welt hier zu erfassen. Diese Aufgabe wird durch die Telekommunikatiossysteme offensichtlich externalisiert. Das Telefon zum Hören, das Fernsehen zum Sehen, die Systeme der Teleaktion zum Berühren und zur sensomotorischen Interaktion - all diese Apparate virtualisieren die Sinne, d.h. sie organisieren die Vergemeinschaftung von virtualisierten Organen. Die Menschen, die beispielsweise dieselbe Fernsehsendung sehen, haben ein großes kollektives Auge gemeinsam. Mit den Photoapparaten, den Kameras und Tonbandgeräten können wir die Eindrücke irgendeines anderen zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort wahrnehmen. Die sogenannten Systeme der Virtuellen Realität ermöglichen uns überdies, eine dynamische Integration von verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten zu erfahren. Wir können fast die ganze sinnliche Erfahrung von irgendeinem anderen wiedererleben.
ProjektionenDie zur Wahrnehmung symmetrische Funktion ist die Projektion von Handlungen und Bildern in die Welt. Die Projektion von Handlungen ist offensichtlich mit Maschinen, Transportmitteln, Produktions- und Energieübertragungsnetzen und mit Waffen verbunden. In diesem Fall hat eine große Anzahl von Menschen dieselben riesigen virtuellen und deterritorialisierten Hände gemeinsam. Es ist unnütz, diesen Aspekt weiter zu entfalten, der sich genauer aus der Analyse des technischen Phänomens ergibt.Die Projektion des Körperbildes ist allgemein verbunden mit dem Begriff der Telepräsenz. Doch diese ist immer mehr als eine eine einfache Bildprojektion. Das Telefon beispielsweise funktioniert bereits als Telepräsenzmaschinerie. Es übermittelt nicht nur ein Bild oder eine Repräsentation der Stimme, sondern es transportiert diese selbst. Das Telefon trennt die Stimme (oder den tönenden Körper) vom berührbaren Körper und überträgt ihn in die Ferne. Mein berührbarer Körper ist hier, mein tönender Körper ist, verdoppelt, hier und dort. Das Telefon verwirklicht bereits eine partielle Form der Allgegenwart. Und der tönende Körper meines Dialogpartners ist ebenfalls derselben Verdopplung ausgesetzt. Wir sind daher beide hier und dort, aber mit einer Kreuzung in der Verteilung der berührbaren Körper. Die Systeme der Virtuellen Realität übermitteln mehr als Bilder: sie übermitteln eine Quasi-Präsenz, denn die Klons, sichtbaren Agenten oder virtuellen Marionetten, die wir durch unsere Gesten steuern, beeinflussen und modifizieren andere Marionetten oder sichtbare Agenten, sie bedienen sogar "wirkliche" Apparate und handeln in der gewöhnlichen Welt. Einige Körperfunktionen wie die an eine sensomotorische Rückkopplung in Echtzeit verbundene Fähigkeit, etwas zu bedienen, werden daher über die Entfernung übertragen, entlang einer komplexen technischen Verbindung, die in bestimmten industriellen Umgebungen immer besser beherrscht wird.
EinpassungenWas stellt einen sichtbaren Körper dar? Seine Oberfläche: die Haare, die Haut, der Glanz des Blicks. Die medizinischen Bilder lassen das Innere des Körpers sehen, ohne die empfindliche Haut zu durchstoßen, die Gefäße durchzutrennen oder Gewebe zu zerschneiden. Man könnte sagen, daß sie eine andere Haut, vergrabene Gedärme, unvermutete Oberflächen ins Leben rufen, die aus der Tiefe des Organismus aufsteigen. Röntgenstrahlen, Scanner, Kernspin-Tomographen, Echographen, Positonenkameras virtualisieren die Körperoberfläche. Ausgehend von diesen virtuellen Membranen kann man digitale Körpermodelle in drei Dimensionen rekonstruieren und daraus materielle Modelle herstellen, die beispielsweise den Ärzten dazu dienen können, eine Operation vorzubereiten. Alle diese Häute, alle diese virtuellen Körper haben wirkliche Auswirkungen, die für die medizinische Diagnostik und die Chirurgie sehr wichtig sind. Im Reich des Virtuellen bringt die Untersuchung und Rekonstruktion des Körpers weder Schmerzen noch den Tod mit sich. Die virtualisierte Haut läßt sich durchdringen. Von den Kindern kennt man bereits das Geschlecht und fast auch das Aussehen, bevor sie noch geboren wurden. Jede neue Maschine fügt dem wirklichen Körper eine neue Hautart, einen sichtbaren Körper hinzu. Der Organismus paßt wie eingegossen hinein. Das Innere geht in das Äußere über, wobei alles innen bleibt. Denn die Haut ist auch die Grenze zwischen dem Selbst und dem Außen. Durch die bildgebenden medizinischen Verfahren entfaltet sich eine Menge an Häutchen in das Körperzentrum hinein. Durch die Telepräsenz und die Kommunikationssysteme vervielfältigen sich die sichtbaren, hörbaren und wahrnehmbaren Körper und verteilen sich. Wie im Universum des Lukrez treten aus unserem Körper eine Menge an Häuten und Hautbildern: die Simulakra.
Der HyperkörperDie Virtualisierung des Körpers regt vergleichbar der Sprache, den Techniken und den Verträgen zu Reisen und allen Austauschprozessen an. Die Implantate lassen einen großen Organkreislauf zwischen menschlichen Körpern entstehen - von einem Individuum zum anderen, aber auch zwischen den Toten und den Lebendigen, innerhalb der Menschheit und von einer Gattung zur anderen: Man implantiert Menschen Pavianherzen oder die Leber von Schweinen, man läßt sie von Bakterien hergestellte Hormone einnehmen. Die Implantate und die Prothesen reißen die Grenze zwischen dem Mineralischen und dem Lebendigen ein: Brillen, Linsen, künstliche Zähne, Silikon, Herzschrittmacher, Hörprothesen, Hörimplantate, äußere Filter anstelle von gesunden Nieren.Die Augen (die Hornhäute), das Sperma, die Eizellen, die Embryonen und vor allem das Blut sind mittlerweile sozialisiert und austauschbar, und sie werden in bestimmten Banken aufbewahrt. Deterritorialisiertes Blut läuft von Körper zu Körper durch ein riesiges internationales Netzwerk, bei dem sich die ökonomischen, technischen und medizinischen Komponenten nicht mehr unterscheiden lassen. Der rote Lebenssaft bewässert einen formlosen und zerstreuten kollektiven Körper. Das verallgemeinerte Fleisch und das Blut verlassen die intime Subjektivität und treten nach außen. Aber dieses öffentliche Fleisch kehrt zum transplantierten Individuum als dem Empfänger einer Transfusion oder von Hormonen zurück. Der kollektive Körper kehrt zurück, um das private Fleisch zu verändern. Manchmal läßt er es wieder auferstehen oder ernährt es in vitro. Die Schaffung eines kollektiven Körpers und die Teilnahme der Individuen an dieser Gemeinschaft bestand lange Zeit aus rein symbolischen oder religiösen Vermittlungen: "Das ist mein Körper, das ist mein Fleisch." Heute werden dazu technische Mittel eingesetzt. Genauso wie wir seit langer Zeit eine gewisses Verständnis und ein Weltbild mit jenen teilen, die unsere Sprache sprechen, verbinden wir uns heute virtuell in einem Körper, den wir gemeinsam mit jenen haben, die zum selben technischen und medizinischen Netz gehören. Jeder Körper wird zum Teil eines riesigen hybriden und globalisierten Hyperkörpers. Als Echo auf den Hyperkoretx, der heute seine Axone durch die digitalen Netze des Planeten wachsen läßt, breitet der Hyperkörper der Menschheit seine chimärenhaften Gewebe zwischen den Häuten und Gattungen, über die Grenzen und Ozeane, von einem Ufer zum anderen des Lebensflusses aus.
IntensivierungenAls Reaktion auf die Virtualisierung des Körpers hat sich in unserer Epoche eine sportliche Praxis entwickelt, die zweifellos niemals zuvor einen so großen Anteil der Bevölkerung erfaßt hat. Ich spreche hier nicht von den "gesunden" und athletischen Körper, wie ihn die autoritären Regime dargestellt haben oder wie er durch die Modezeitschriften und Werbebilder propagiert wurde, und auch nicht von Sportmannschaften. Ich meine diese Leidenschaften und Mühen, die Grenzen zu überschreiten, neue Bereiche zu erobern, Empfindungen zu intensivieren und andere Geschwindigkeiten zu erkunden, die durch eine unser Jahrhundert kennzeichnende sportliche Explosion ins Leben getreten sind.Mit dem Schwimmen (eine vor dem 20. Jahrhundert sehr wenig ausgeführte Sportart) passen wir uns dem wässrigen Milieu an, lernen wir, die Beine zu verlieren, erfahren wir eine neue Weise, die Welt wahrzunehmen und durch den Raum getragen zu werden. Das Tiefseetauchen, als Freizeitbeschäftigung ausgeübt, maximiert diese Abkehr vom Land. Die Höhlenforschung, die einen "in die Erdmitte" zieht, wurde vor Jules Vernes kaum ausgeübt. Der Alpinismus konfrontiert den Körper mit dünner Luft, großer Kälte und unerbittlichen Abhängen. Genau deswegen ist er praktisch zu einem Massensport geworden. Immer handelt es sich um dieselbe Tendenz, aus dem Rahmen, dem Hybriden, dem "Werden" herauszutreten. Sie hat fast eine Metamorphose zum Ziel: zu einem Fisch, einer Gemse, einem Vogel oder einer Fledermaus werden. Am Bezeichnendsten unter diesen Sportarten des Werdens und der Neigung zum Extremen sind die Formen des Springens (Fallschirmspringen, Gleitsegeln, Bungee-Springen) und des Gleitens (alpines Skifahren, Wasserski, Surfen). Sie alle sind Reaktionen auf die Virtualisierung. Diese rein individuellen Sportarten benötigen keine großen Mannschaften und verwenden nur maßvolle Geräte. Vor allem intensivieren sie die körperliche Anwesenheit im Hier und Jetzt. Sie konfrontieren den Menschen mit seinem Lebenskern, mit seiner sterblichen "Seinslage". Hier scheint die Wirklichkeit zu herrschen. Diese maximale Verkörperung an diesem Ort und zu dieser Zeit kann jedoch nur die Grenzen erzittern lassen. Zwischen Luft und Wasser, zwischen Erde und Himmel, zwischen Boden und Berggipfel sind der Surfer und der Springer nie ganz da. Indem er den Boden und dessen Stützpunkte verläßt, besteigt er die Flut, gleitet er auf den Oberflächen, nutzt er nur die Fluchtlinien, vektorisiert und deterritorialisiert er sich. Der kalifornische Surfer, der Wellenreiter, der in der Intimität der Wogen lebt, kloniert sich in einen Netsurfer. Die Wellen des Pazifiks verweisen auf die Informationssintflut und der Hyperkörper auf den Hyperkortex. Der Gravitation unterworfen, aber mit dem Gleichgewicht spielend, verliert der Körper des Springenden oder des Gleitenden seine Schwere. Er wird Geschwindigkeit, zum Durchgangsort, zum Objekt des Überfliegens. Obwohl er aufsteigt, scheint er gleichwohl zu stürzen und sich in die Horizontale zu neigen: das ist der verklärte Körper des Springers oder des Surfers, sein virtueller Körper.
AufflammenSo verläßt der Körper sich selber, erwirbt neue Geschwindigkeiten, erobert neue Räume. Er krümmt sich nach außen und führt die technische Veräußerung oder die biologische Andersheit in seine konkrete Subjektivität zurück. Wenn der Körper sich virtualisiert, vervielfältigt er sich auch. Wir machen aus uns virtuelle Organismen, die unser wahrnehmbares Universum bereichern, ohne uns Schmerzen zuzufügen. Handelt es sich um eine Entkörperung? Wir können am Beispiel des Körpers einmal mehr erkennen, daß die Virtualisierung nicht auf einen Prozeß des Verschwindens oder der Immaterialisierung reduziert werden kann. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, sei daran erinnert, daß sie sich wesentlich als Identitätsveränderung, als Übergang von einer bestimmten Lösung zu einer allgemeinen Problematik oder als Transformation einer besonderen und begrenzten in eine delokalisierte, desynchronisierte und kollektivierte Funktionsweise beschreiben läßt. Die Virtualisierung des Körpers ist folglich keine Entkörperung, sondern eine Neuerfindung, eine erneute Verkörperung, eine Vervielfältigung, eine Vektorisierung, eine Heterogenese des Menschlichen. Deswegen ist die Grenze zwischen der Heterogenese und der Entfremdung, zwischen der Verwirklichung und der kommerziellen Vergegenständlichung, zwischen der Virtualisierung und der Amputation niemals definitiv zu ziehen. Diese ungenaue Grenze muß sowohl von den Menschen hinsichtlich der Lebensführung als auch von den Gesellschaften hinsichtlich des gesetzlichen Rahmens unaufhörlich abgeschätzt und immer wieder erneut bewertet werden.Mein persönlicher Körper ist die vorübergehende Verwirklichung eines riesigen hybriden, sozialen und technobiologischen Hyperkörpers. Der zeitgenössische Körper ähnelt einer Flamme. Er ist oft isoliert, abgetrennt, fast unbeweglich. Später gerät er außer sich, intensiviert er sich durch Sport und Drogen, gleitet durch einen Satelliten vorüber, reicht irgendwelche virtuellen Hände über die Kommunikationsnetzwerke hoch in den Himmel. Er verbindet sich mit dem öffentlichen Körper und brennt mit derselben Hitze, glänzt im selben Licht wie andere entflammte Körper. Dann kehrt er verwandelt in eine fast private Sphäre zurück und ist folglich teils hier und teils überall, teils in sich sich und teils verschmolzen. Eines Tages wird er sich gänzlich vom Hyperkörper lösen und verlöschen. Aus dem Französischen übersetzt von Florian Rötzer |