Lev Manovich

Avantgarde, Cyberspace und die Architektur der Zukunft



Ein Manifest

Waehrend der spaeten 80er und der fruehen 90er Jahre fanden drei unerwartete Ereignisse statt:

  • Der "Tod" der Architektur.
  • Die Geburt und das rasche Aufbluehen des virtuellen, computergenerierten Bildes.
  • Der Tod der utopischen Imagination (Avantgarde, Kommunismus).
Welche Verbindung gibt es zwischen Ereignissen?

Der "Tod" der Architektur:
Architektur wird einfach zu einem Hilfsmittel fuer computergenerierte Bilder. (Man denke an die futuristischen Fassaden, die als gigantische Videobildschirme in "Blade Runner" oder beim Projekt von Rem Koolhaas fuer den Architekturwettberwerb des ZKM dienen.) Der von diesen Bildern erzeugte virtuelle Raum ersetzt den materiellen Raum der Architektur. In anderen Worten: das Bild begrenzt den Raum. Architektur wird auf einen Bildbehaelter reduziert, das Innere wird wie bei einem Fernsehgeraet, einer Reklameflaeche oder einem Kino nach aussen gekehrt. "Die Fassade wird zum Screen", wie es ARCH+ 1991 formulierte.
Der Tod der Utopie:
die Avantgarde-Phantasien einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen sind verschwunden. Konsum, Fragmentierung, Kapitalismus und Virtualitaet herrschen. Nicht zufaellig ereigneten sich die postmoderne Mode und der Tod des Kommunismus gleichzeitig. Übriggeblieben von der Utopie ist nur ein architektonischer Koerper (das Mausoleum von V.I.Lenin), das den virtuellen Leib des letzten utopischen Denkers enthaelt.
Die moderne Architektur der Avantgarde traeumte davon, die Menschen zu veraendern, wenn man sie in einen idealen Raum versetzt. Wie die zeitgenoessische audiovisuelle Architektur wardie Architektur der Avantgarde rein utilitaristisch ausgerichtet, weil sie einzig dem Zweck diente, eine virtuelle Erfahrung zu erzeugen. Audiovisuelle Architektur versucht dies durch die Ausmasse ihrer Fassadenscreens zur Vollendung zu fuehren; die Architektur der Avantgarde durch den psychophysischen Einfluss ihrer Raeume. Die Raeume werden so gestaltet, dass man zu erbeben beginnt, dass man im Rhythmus mitschwingt, sich selbst einem allgemeinen Ziel, dem Kampf bis zum Tod, unterwirft.

Ist eine solche progressive Architektur heute noch moeglich? Der Traum der modernen Architekten, eine neue Gesellschaft durch die Gestaltung der materiellen Raeume zu schaffen, wurde kompromittiert. Nachdem sie in den 60er Jahren diesen Traum aufgegeben hatte, wartete die Architektur bereits darauf, vom computergenerierten Bilder uebernommen zu werden. Wir sind heute Zeugen dieser Machtuebernahme.

Daher scheint die Geburt und die Entwicklung des Computerbildes endgueltig jede Moeglichkeit einer progressiven Architektur ausgemerzt zu haben, die auf dem Versprechen basierte, schuetzende, motivierende und harmonisierende materielle Raeume zu schaffen. Doch kann genau dieselbe Entwicklung es schliesslich der progressiven Architektur ermoeglichen, ihr Versprechen zu erfuellen.

HEUTE IST DER EINZIGE ORT FUER DIE UTOPISCHE ARCHITEKTUR DER CYBERSPACE. Anstatt wirkliche Gebaeude zu bauen, werden Architekten 3D-Welten konstruieren, die jeder betreten kann, wenn er einen Datenhelm mit Kleinstmonitoren oder aehnliches VR-Zubehoer anzieht. Anstatt utopische materielle Raeume zu schaffen, werden progressive Architekten virtuelle Raeume gestalten.

Die Architektur des Cyberspace wird dort erfolgreich sein, wo die moderne Architektur gescheitert ist. Die utopische architektonische Imagination wird nicht mehr durch die physikalsiche Realitaet begrenzt. Ihre einzige Begrenzung ist die Geschwindigkeit der "Darstellungsmaschinen", die jeden Tag schneller wird. Der Traum, durch die Raumerfahrung die Menschen zu veraendern, kann schliesslich Wirklichkeit werden. Natuerlich wird es den materiellen Raum weiterhin geben, aber er sollte aus einer gaenzlich funktionalen Perspektive gestaltet werden: Als eine Maschine fuer virtuelles Leben. Das Ziel der progressiven Architektur besteht deswegen heute darin, die Baukosten fuer den materiellen Raum zu minimieren, um alle Ressourcen fuer die Aufrechterhaltung der virtuellen Welt zu verwenden.

Ich glaube, dass die Architektur des Cyberspace das logische Ergebnis der modernen Architektur sein wird. Heute verfuegen wir endlich ueber die Technologie, die Menschen durch die Raumerfahrung zu veraendern. Das computergenerierte Bild wird es moeglich machen, die utopische Architektur und die Idee von Utopia wieder zum Leben zu erwecken.

Aus dem Englischen uebersetzt von Florian Roetzer
Text: Lev Manovich (c) 1995


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