1. Die Krise der Ersatz-StadtDie letzte Hoffnung der Architektur ist die Stadt. Die grossartige,aus dem spaeten 19.Jahrhundert stammende Stadt, deren koenigliche Palaeste, Avenuen, Kaufhaeuser, Hauptbahnhoefe, Opernhaeuser, Theater, Parks, Paradeplaetze und Kasernen zu Hotels, Museen, Kunstgalerien, teuren Wohnungen, klimatisierten Einkaufszentren, Restaurants, Bars, Klubs, Kinos, Bueros von Fluglinien, Banken mit Geldautomaten, U-Bahnhoefen und brodelnden Parkplaetzen fuer Autos wurden.Die "Ersatz-Stadt", die wieder die aus der Vergangenheit übriggebliebenen Körper der grossen Städte besetzen und beleben soll, hypnotisiert die kampfbereiten Verteidiger der architektonischen Kultur in Europa. Für diese verspricht sie ein neues Leben, eine Wiederkehr der Ökonomie jener europäischen Staedte der Alten Welt, deren Herzen durch die Zusammenbrüche der Königreiche, das Wüten der Kriege, die Entstellungen des Wiederaufbaus und das Abwandern der Investitionen in andere Kontinente fast zu schlagen aufgehört haben. Man würde zweifellos erkennen, dass diese Städte sich in einem hoffnungslosen Zustand befinden, wenn es nicht die Hypothese des Ersatzes gäbe. Ein Jahrhundert, nachdem ihre hauptsächliche Entwicklung abflaute, atmen sie nur noch mit Schwierigkeiten und nur noch mit der Hilfe des Tourismus, diesem ätzenden Sauerstoff, der die urbanen Lungen zerstört, selbst wenn er den ökonomischen Pulsschlag am Leben erhält. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ganz dem Tourismus geweiht, hat sich Florenz, die grosse italienische Kunst- und Kulturstadt, darum bemüht, um jeden Preis sein historisches Zentrum zu schützen, wodurch ein grossräumiger Ring von Vorstädten ohne Infrastruktur entstand, die sie langsam zu Tode würgen. Die Kultur der architektonischen Antwort ist der Generalplan von Vittorini aus dem Jahr 1993, der verspricht, die durch die Geschichte heruntergewirtschaftete, monozentrische Stadt Florenzin eine neue "urbane Zone von Florenz" zu verwandeln. Doch das Missverhältnis zwischen der Krise und den vorgeschlagenen Mitteln zu ihrer Behebung wird kaum verstanden. London ist zehnmal grösser als Florenz und seine Probleme sind entsprechend grösser, aber man versucht, sie anders zu lösen. London heftet seine Hoffnung noch immer an einen Kompromiss. Dieser Beschluss kam in den 80er Jahren zwischen den Kräften der Innovation und denen der Erhaltung zustande. Es wurde entschieden, dass letztere neue klimatisierte, luftdicht verschlossene Gebäude mit elektronischen Systemen der Satellitenkommunikation in alte Teile der Innenstadt einfügen durften - aber nur hinter restaurierten Fassaden der alten Gebäude und nur im lähmenden Rahmen des mittelalterlichen Strassennetzes und der unwirtschaftlichen Grundstücksgrösse, die von der Geschichte hinterlassen wurden. Anders als in Florenz führte dieser Kompromiss in London zur Geburt von neuen Architekturformen. Es handelt sich um eine Architektur mit den Merkmalen von Esperanto, jener künstlichen Sprache, deren Sinn jeder versteht, aber die niemand authentisch spricht. Nach der Ausrichtung dieses neuen Stils muss sowohl die moderne Architektur des 20.Jahrhunderts (die verlangte, dass ein Gebäude als vollständiger Organismus, "von innen nach aussen", wie das Bauhaus lehrte, entworfen werden müsse) als auch die historische Sanierung der alten Gebäude neu bewertet werden. Beide architektonische Strategien sind von innen heraus zerstört und durch eine "Stealth-Architektur" ersetzt worden, die aus nach allen Richtungen mit Serviceleistungen ausgelegten Stockwerken, überzogen von waffeldünnen Steinfliesen, bestehen, so dass sie grell "historisch" wie der Hintergrund eines Spiels aussieht, oder die hinter die wiederhergestellten Fassaden von ausgenommenen historischen Gebäuden eingebaut werden kann. Ein gutes Beispiel für die "Stealth-Architektur" ist die europäische Zentrale von Nomura International, dem weltweit grössten Versicherungshändler, in der Innenstadt von London. Das Gebäude nimmt einen ganzen städtischen Block mit vier Fassaden ein und ist das grösste Fassadenerhaltungsprojekt, das jemals in Europa ausgeführt wurde. Man sagt, dass die Architekten von einer kommerziellen Firma mit dem Namen Fitzroy Robinson Partnership kommen, aber in Wirklichkeit gibt es keinen lebendigen Designer. 100 Jahre zuvor war die Nomura Bank ein fünfstöckiges Postgebäude, in dessen Hof das Klappern der Pferdepostkutschen widerhallte. Heute bergen dieselben Fassaden 46000 Quadratmeter Bürofläche, die mit Elektronik ausgeruestet ist, in 10 Stockwerken, wobei sich vier unter der Erde befinden. 1991 wurde Nomura fertiggestellt und ist der größte "Stealth Bomber" in London. Es ist ein Gebäude, dessen Äusseres keine Spur von dem zeigt, was sich in seinem Inneren befindet.
2. Das Zeitalter der endgültigen MutationenDas Fehlen jeder organischen Verbindung zwischen dem Inneren und dem Äusseren in der "Stealth-Architektur" stellt den größten Wandel hinsichtlich unseres Zugangs zum Design von Gebäuden während der letzten 50 Jahre dar. Das läuft parallel zu dem, was in der kosmetischen Chirurgie und der geriatrischen Medizin geschieht, wo die Versuche, das Leben zu verlängern oder die Erscheinungsweise der Menschen durch Organverpflanzungen, Prothesen und äußeren chirurgischen Veränderungen zu verbessern, zu ähnlichen Versuchen führen können.Letztlich müssen alle diese Bemühungen scheitern. Genauso wie es unmöglich ist, Menschen unbestimmt lange am Leben zu erhalten, es sei denn durch unangemessen hohe Kosten und mit grotesken Effekten, ist es auch unmöglich, alte Gebäude immer instandzuhalten. Doch ebenso wie wir uns mit der Existenz von "Ersatzteilmenschen" mit künstlichen Hüften, Herzen, Nieren, Brüsten, Nasen und Gehirnen abgefunden haben, kommen wir nun mit "Ersatzteilgebäuden" zurecht, die im im Stil Frankensteins aus verschiedenen Elementen von verschiedenen Zeiten zu unterschiedlichenZwecken in unserer neuen, enthistorisierten urbanen Szene konstruiert wurden. Als Ergebnis dieser Verschmelzung des Alten und Neuen, des Zweckvollen und Dekorativen, verschwinden alle erkennbaren Gebäudekategorien in London und gehen sämtliche authentischen Unterschiede zwischen historischen Epochen verloren: ihre "Schichten" werden buchstäblich wie durch ein heftiges Erdbeben zusammengeschoben. Genauso wie Margaret Thatcher einst das ganz neue Merrill Lynch Gebäude in Canary Wharf für ein aufpoliertes Kaufhaus aus dem 19.Jahrhundert hielt, so werden wir bald nicht mehr wissen, ob der Quinlan Terry Buerokomplex im Still des Classical Revival 1788 oder 1988 gebaut wurde, und dies wird auch nichts mehr bedeuten. Das entspricht dem, was der amerikanische Komödiant einst über die Schauspielerei sagte: "Das Wichtigste ist Ehrlichkeit. Wenn man die einmal vortäuschen kann, dann hat man alles erreicht." Um zu verstehen, wie die Vortäuschung der Ehrlichkeit zustande kam und was das für die Zukunft bedeuten wird, müssen wir 30 Jahre zurückgehen, in die Zeit, als der erste Computer mit Transistoren, der Digital PDP-1, auf den Markt kam. Seit diesen wenigen Jahren ist die Computerarchitektur mit hoher Geschwindigkeit durch alle Stile und technischen Evolutionen gereist, die die reale Architektur in den 500 Jahren seit der Renaissance durchquert hat. Während die Architektur jedoch in einer Welt der Täuschung und der abgewirtschafteten Bedeutung geendet ist, halten die Computer noch immer an einer quantifizierbaren Richtung des technischen Fortschritts fest. Sie kämpfen um Miniaturisierung, Geschwindigkeit und steigende Leistungskraft, und es ist kein Zeichen zu sehen, daß sie sich von diesen Zielen abwenden. Sie sind, wie es sein sollte, sicher in der funktionalistischen Tradition der 60er Jahre verankert, während die Architektur in die gefährlich seichten Gewässer der Mode, der Korruption und der Verrücktheit abgedriftet ist. In der Welt der Computer gibt es nur eine Verwendung für nicht mehr zeitgemäße Geräte, nämlich als Mittel, um Zugang zu alten Daten zu erhalten, die man anders nicht mehr gewinnen kann. Abgesehen von ein paar frühen und exotischen Museumsexemplaren werden die alten Computer, die man behält, weiterhin eingesetzt. Nicht weil sie ein "unbezahlbares Erbe" wären, sondern weil die Daten in ihren Speichern noch immer ihren Wert haben. Für Gebäude gibt es keine solche praktische Rechtfertigung für die Instandhaltung alter Exemplare. Abgesehen von einigen exotischen Museumsexemplaren gibt es kein Bedürfnis nach alten Gebäuden "als Mittel für den Zugang zu alten Verhaltensweisen". Trotzdem wird von Geschäftsleuten in historischen Städten und Großstädten verlangt, daß sie weiterhin die alten Gebäude nutzen, während man niemals von ihnen erwarten würde, daß sie zeitanteilig mit alten Mainframes in wunderlichen "Computerräumen" arbeiten. 3. Zwei Spielarten des VeraltensIm Zentrum steht hier eine unterschiedliche Haltung zum Veralten, zu einer "Ersatzteilchirurgie" und zu traditionellen sthetiken in der Architektur und im Computerbereich. Veralten in der Architektur ist aber nicht nur eine Sache von Jahrhunderten. Heute sind, wenn das Geld den Globus in Bruchteilen einer Sekunde umrunden kann, selbst die neuesten Gebäude für finanzielle Dienstleistungen mit dem Veralten konfrontiert: nicht so sehr wegen der Fortschritte der Informationstechnologie oder neuen Bauweisen als wegen der Veränderungen im finanziellen Klima - wegen der Luft sozusagen, die sie von Beginn an atmen müssen. In diesem Sinne sind die meisten der Prestige erheischenden Bauwerke für finanzielle Dienstleistungen aus den 80er Jahren heute veraltet. Man kann sogar sagen, daß sie schon veraltet waren , bevor sie fertiggestellt worden sind.In der Geschäftswelt gibt es keinen Markt für ein Telefonsystem, das drei Jahre zu spät geliefert wird, für ein Verkehrsflugzeug mit zu geringer Reichweite, um sein Ziel zu erreichen, oder für ein industriell nicht standardisiertes Aufnahmegerät. Gebäude werden jedoch für eine Geschäftsumwelt in Auftrag gegeben, wo sie nicht wie erwartet funktionieren, weil die Marktchancen, die sie nutzen sollten, bei ihrer Fertigstellung nicht mehr existieren, und sie so funktionell veraltet sind. Wie Charles Darwin vor einhundertfünfzig Jahren entdeckte, ist es sinnlos, Mitleid mit allen schlecht angepaßten Arten zu empfinden, weil ihre Umwelt feindlich ist. Es ist die Art, die sich an die Umwelt anpassen muß, und nicht vice versa. Jede Art, die es nicht schafft sich anzupassen, muß mit der Auslöschung rechnen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber die Apologeten der Architektur offerieren heute endlose Entschuldigungen für deren Mangel an Anpassungskraft. Allein in Grossbritannien gibt es mehr als 33000 Gebäude, die als "gefährdet" registriert wurden, was heißt, daß es niemanden gibt, der sie instandhält oder benutzt. Was die Computerwelt akzeptiert, aber nicht die Welt der Architektur, ist, daß "gefährdet" einfach "überholt" bedeutet. Man sehe sich ein berühmtes Gebäude in London an, das normalerweise nicht mit der Idee des Veraltens in Zusammenhang gebracht wird: Number One Canada Square, der 250 Meter breite und fünfzig Stockwerke hohe Turm, der das "alternative Finanzzentrum" Canary Wharf in Docklands beherrscht. Es ist weder ein "Stealth"-Gebäude noch ein "historisches" Gebäude. Seiner Gattung nach ist es ein "intelligentes" Gebäude . Das zweithöchste bezogene Gebäude in Europa mit einer Nutzfläche von 1000000 Quadratmetern befindet sich in einer "Entwicklungszone", einer Planungsklassifikation, die in den 80er Jahren speziell für eine beschleunigte Konstruktion durch Aussetzung der normalen Kontrollen der Bauplanung geschaffen wurde. Es wurden keine Einspruchsverfahren erlaubt, die die Konstruktion dieses Gebäudes hätten behindern können. Mit dem Bau wurde im Sommer 1988 begonnen und genau drei Jahre später, im August 1991, bezogen die ersten Mieter das Gebäude. Das war nach britischen Maßstäben ein beispielloser Erfolg für einen schnellen Bau, dennoch ging es nicht schnell genug. Innerhalb von neun Monaten nach seiner Fertigstellung und mit weniger als 40 Prozent vermieteter Büroflaeche, stand die ganze Erschliessung von Canary Wharf vor dem Bankrott. 4. Wie der reale Baumarkt den Bach hinuntergehtWelche besonderen Mißkalkulationen auch immer zum geschaeftlichen Scheitern von Olympia&York beigetragen haben moegen, so lag doch der Hauptgrund ihres Zusammenbruches jenseits ihrer Kontrolle. Zwischen 1988 und 1991 veraenderte sich die gesamte Weltwirtschaft und die angesichts dieser Umweltveraenderungen so geruehmte "Intelligenz" von No.1 Canada Square erwies sich als nicht anpassungsfaehiger als der mittelalterliche Tower von London.Heute ist zwar ein grosser Teil des leeren Bueroraumes bezogen worden, doch diese nachtraegliche Viabilitaet wurde nicht ohne eine gewaltige Abschreibung von Schulden seitens der Banken moeglich, die das urspruengliche Vorhaben finanzierten. Sie sollte auch nicht den entscheidenden Grund fuer das Scheitern des frueheren Vorhabens verdunkeln. Nach vier kurzen Jahren hat der Besitzer viermal gewechselt, und es gibt noch immer 200000 Quadratmeter Bueroflaeche, die noch niemals vermietet worden sind. Die gesamten Baukosten, die auch die Zugangsstrassen, Gleisverbesserungen und eine im Bau befindliche U-Bahnlinie beinhalten, wurden auf 12 Billionen Pfund fuer eine Million Quadratmeter Bueroraum geschaetzt. Wenn man solche Dinge betrachtet, dann sollte man bemerken, dass es eine Gewohnheit gibt, den Mangel an Synchronisation zwischen Konstruktionszyklen und oekonomischen Zyklen - wie den zwischen der Anzahl der Flughaefen und der Passagiere oder den zwischen der Strassenkapazitaet und der Anzahl der Autos - als etwas zu verstehen, was wie das Wetter ausserhalb des menschlichen Einflusses liegt. Aber das ist keineswegs so, sondern nur ein UEberbleibsel des kunsthistorischen Denkens, das die Architektur wie ein Paar ungleicher Schuhe niederdrueckt. Es ist wahr, dass die Architektur, weil sie langlebig ist, oekonomische Zyklen ueberleben kann. Gebaeude koennen abgewirtschaftet werden und sogar fuer Jahre vollstaendig leerstehen, dann aber doch wieder aufgemoebelt und gebraucht werden. Das ist, wie man uns erzaehlt, eine Form der Anpassungsfaehigkeit. Aber es ist, wie der Fall von Canary Wharf zeigt, eine ausserordentlich teure. Eine Architektur dieser Art zu finanzieren, ist seit 80 Jahren fuer die Eigentuemer zu teuer geworden. Nun wird es auch fuer die Kunden zu kostspielig. Heute geben Anlageberater in Europa und den USA vertraulich zu, dass Tausende von Buerogebaeuden in den Innenstaedten, manche weniger als zehn Jahre alt, bereits veraltet sind: sie sind zu teuer, nicht modernisierbar und dazu bestimmt, in grossen Mengen abgerissen, umgewandelt oder verlassen zu werden. Die heutigen Wirtschaftsfuehrer koennen keine AEhnlichkeit zwischen der Art sehen, wie in den Jahren nach 2000 in Europa oder in den USA Investitionen ihren Weg in die Entwicklung von kommerziell genutzten Grundeigentum finden werden, und derjenigen, wie dies in den 80er Jahren geschehen ist. In diesen Kontinenten geht die Welt der Unternehmen mit dem Veralten auf andere Weise um: durch "Verschlanken", "Wiedererfinden der Geschaeftsumgebung", "Dezentralisierung", "Hot Desking", "Telearbeit" und so weiter: also indem sie die Architektur aufgibt. Eine Rezession im Bau von Geschaeftsgebaeuden bedeutet, dass die Geschaeftswelt den Gebaeudedesignern eine Botschaft mitteilt, die besagt, dass sie ein ganz neues Wertesystem fuer Gebaeude wuenscht. Ein Wertesystem, das der kunsthistorisch unterstuetzten Tradition der Dauer und der grossen Bedeutung ganz entgegengesetzt ist. Ein Wertesystem, das fordert, dass das Bauen nicht mehr und mehr mit kultureller Bedeutung, dreifachen Architekturwettbewerben und endlosen, in paepstlichem Gestus ausgetragenen historistischen Streitereien ueberladen wird, sondern dass die Architektur mehr und mehr befreit, bedeutungslos, vergaenglich und leicht werden muss. Wenn das nicht geschieht, wird sie durch eine voellig verschiedene Art raumumschliessender Technologie ersetzt werden. Das ist keine leere Drohung, denn jetzt bedroht die Architektur kein neuer Stil oder eine Verschiebung innerhalb der Hierarchie der Berufe, Branchen und Industrien im Baugewerbe, sondern etwas viel Fundamentaleres: eine neue Konzeption des Raumes, die ueberhaupt keine Ansprueche mehr auf die materielle Umwelt erhebt. 5. Wie der virtuelle Baumarkt seinen Siegeszug antrittDaß die Aussicht eines drastischen Übergangs von der faktischen Architektur zum fiktiven Raum nicht unvorstellbar ist, kann man aus dem Fortschritt sehen, der in der sensorischen Simulation und der Telekommunikation waehrend der letzten drei Jahrzehnte zustandekam. Nach und nach haben es Kino, Fernsehen und Multimedia geschafft, die architektonische Form durch architektonische Illusion zu ersetzen. Vor 75 Jahren mussten Innenaufnahmen bei Stummfilmen noch auf Buehnen ohne Dach und im Tageslicht gedreht werden. Jetzt ermoeglichen es computergraphische Systeme den Fernsehtechnikern, die niemals das Tageslicht sehen muessen, eine Live-Handlung mit jeder Art visuellem Hintergrund in einem Produktionsraum digital zu verbinden, der mitten in die Erde versunken sein kann. Diese Reise in 75 Jahren von den Filmaufnahmen im Freien zum digitalen Cyberspace der Quantel Paintbox hat die Reise der Architektur von "der grossartigen Zurschaustellung der Formen im Licht" zur wahllosen Pluenderung von historischen Bildern und zur stumpf gewordenen Kuehnheit der heutigen kubistischen, surrealistischen und abstrakt expressionistischen architektonischen Avantgarde abgeloest.Genauso wie Kino, Fernsehen und Multimedia das vorindustrielle Bewusstsein veraendert haben, haben elektronische Informationstechnologie und neue Medien alle produktiven Beziehungen und Raumbeduerfnisse in der Stadt veraendert. Die Unsichtbarkeit der neuen Medien, zusammen mit der durch sie moeglichen Totalitaet der globalen Verbindungen, hat alte architektonische Werte - die Dauer und die Individualitaet von Raum und Form - so unwichtig werden lassen wie die alten gesellschaftlichen Werte der gegenseitigen Abhaengigkeit und der Gemeinschaft. Fuer die Architektur bedeutet die von den neuen Medien bewirkte Verfluechtigung des Dauerhaften das Ende der grossen Investitionen und des langen Lebens. Mit all den Faktoren der neuen Umwelt in einem Zustand aktiver Wechselwirkung, der Warteschleife eines Flugzeugs ueber einem Flughafen vergleichbar, wird der Wert einer dauerhaften Form wie niemals zuvor in der Geschichte infragegestellt. Auf dieselbe Weise wird das Fachwissen abgewertet. Wenn jede Information, sobald sie erhalten wird, durch eine aktuellere Information ersetzt wird und wenn jede Information frei verfuegbar ist und sich einer Spezialisierung widersetzt, beginnt sogar der Begriff einer eigenstaendigen Profession wie die der Architektur mit einem eigenstaendigen Expertenwissen obsolet zu werden. Dreidimensionalitaet im physikalisch nicht existierenden Cyberspace beginnt in Geschwindigkeit und Umfang jede Architektur in ganzer Groesse, die es jemals gegeben hat oder jemals geben wird, mit einem Bruchteil der Kosten hinter sich zu lassen. Noch am Ende dieses Jahrhunderts werden VR-Systeme zu den oeffentlichen Manifestationen der oekonomischen und kulturellen Macht werden, die einst die grossen Architekturkommissionen gewesen sind. Die Architektur, die lange Zeit ein Medium zur Feier der Realitaet gewesen ist, wird heute von einer Flutwelle der Irrealitaet ueberspuelt. Die elektronische Miniaturisierung des 3D-Raums als dem Bereich menschlicher Handlungen in einer Million Videospiele erprobt den Tod des oeffentlichen Raumes und damit auch den der Architektur der "Ersatzstadt". Die neuen Medien haben bereits weite Funktionsbereiche an sich gerissen, fuer die frueher die oeffentliche und private Architektur zustaendig gewesen ist. Die grossen Strassen und Boulevards, die urbanen Raeume, die man einst fuer Transport, Gespraech, Aufruhr, Demonstration, Sich-Zeigen, Parade und Spektakel benoetigte, haben keine Funktion mehr. Sie werden, heruntergewirtschaftet und vernachlaessigt, mehr und mehr als Risiko fuer die oeffentliche Sicherheit empfunden. Heute sind in allen unseren alten und beruehmten Staedten die Spuren des Zusammenbruchs deutlich zu sehen. Der tschechische Medienphilosoph Vilem Flusser hat dies verstanden, als er ueber Koeln schrieb, dass "die Haeuser, die Plaetze und die Kathedrale jetzt verstanden werden koennen, wenn wir sie als oberflaechliche Phaenomene, als zusammengeklumpte, 'materialisierte' Masken, als eine Art archaeologischer Kuechenabfall sehen." In Flussers Sicht offenbaren auch unsere groessten und dauerhaftesten Epizentren eine erschreckende Verletzlichkeit. Man entferne sich einen Schritt von der modischsten Einkaufsstrasse und alles wird zu einem Niemandsland. Verbrechen ist hier der Einsatz, Drogen sind die chemischen Waffen, Touristen die Fluechtlinge. Die Armen, Obdachlosen und Verrueckten schlafen in weggeworfenen Kartons, dem "archaeologischen Kuechenabfall" jener Konsumgueter, die sich nicht leisten koennen. Wie die Veraltung der Gattung der dauerhaften Gebaeude ist auch die Ausloeschung der grossen Staedte nicht immer ein Prozess, der sich ueber Hunderte oder Tausende von Jahren hinzieht. Vor fuenfzig Jahren waren die meisten Staedte in Europa und Japan zerstoert. In den 60er Jahren wurde Saigon durch Bodenkaempfe und Luftangriffe zerstoert. Beirut wurde in den 70er Jahren in Schutt gelegt, woraus es jetzt wieder entsteht. Die Staedte des ehemaligen Jugoslawien erleiden gegenwaertig dasselbe Schicksal. Grosny wurde von den Russen voellig verwuestet. Grosse Staedte, die aus Sentimentalitaet oder durch Zufall geschont wurden, koennen nicht mehr ueberleben. Es mag ueberzogen erscheinen, in Zusammenhang mit dem neuen urbanen Scheitern durch den Vampirismus der elektronischen Signale, der satellitenuebermittelten Echos, der privaten Telefone und der Bilder auf Monitoren an die Folgen von Kriegen und Revolutionen zu denken, aber das ist es keineswegs. In einer Welt, in der Megastaedte mit 15 oder 20 Millionen Menschen entstehen, in einer Welt, in der, wie Rem Koolhaas sagte, "der Urbanismus an sein Ende kommt, aber die Urbanisierung weitergeht" , gibt es keine "alte Stadt", keine "Ersatzstadt", keine "urbane Zone" mehr, die, begleitet vom kommerziellen Triumph der Virtuellen Realitaet, den Zusammenbruch der Investitionen in das Eigentum und die Infrastruktur ueberleben wird 6. Die Entstehung eines nicht-staedtischen UrbanismusSeit den 70er Jahren begann sich das ganze laendliche Europa in einem grossen Guertel, der von London in den Norden und nach Sueditalien reicht, in eine neue oekonomische Landschaft zu verwandeln. An der Stelle von Geschaeften in den Staedten wurden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit Millionen Quadratmeter an Flaeche fuer Grossmaerkte und Distributionszentren ueberbaut. Ausserhalb der alten Staedte und Grossstaedte schossen an tausend Ausfahrten und Kreuzungen von Strassen in einer Laenge von fast 50000 Kilometern eine Million kommerziell genutzte Gebaeudekomplexe ohne jeden Bezug auf alte Staedte, einen urbanen Kontext oder die Vorherrschaft der Kunstgeschichte hervor.Allein in England wurden zwischen 1985 und 1989 mehr als 100 solcher ausserstaedtisch gelegenen Einkaufszentren geplant, wobei fast die Haelfte von ihnen eine Flaeche von ueber 100000 Quadratmetern einnimmt und nicht weniger als neun davon am Londoner Autobahnring M25 entstehen sollten. Jetzt werden enorme Anstrengungen unternommen, um diesen Trend wieder umzukehren, doch haben sie keinen Erfolg, da diese Invasion einer neuen Konstruktion zwar gewuenscht worden ist, aber ungeplant verlief. Die Raumgestaltungen dieser unsentimentalen, computergenerierten Entstaedterung lassen sich voneinander nicht unterscheiden. Sie sind nicht mehr als die Manifestationen der abstrakten digitalen Kommunikationsverbindungen, die die Staaten der EU und viele andere in ein grenzenloses Netz von Verkaufsstellen von Konsumguetern einbinden, das von Haefen und Flughaefen, automatisierten Gefrierlagern, Warenhaeusern, riesigen Lastwagenparks und den transitorischen Schlafgelegenheiten von mobilen Heimen gestuetzt wird. Aber diese Strukturen bilden den Kern einer neuen, ueberlebensfaehigen Form des urbanen Raumes. Sie stellen in embryonaler Form eine postarchitektonische Architektur der Geschwindigkeit und des Billigen dar. Dieser namenlose Urbanismus, dessen Orte oft nur nach den Nummer der Ausfahrten benannt werden, wird von den Architekten und Stadtplanern, von den Historikern und Kritikern nicht beachtet, obgleich er im Blick auf die Zukunft bereits wichtiger ist als all die kunsthistorische Architektur, die jemals gebaut worden ist. Dieser Urbanismus ist in der Terminologie der Einwanderungsbehoerde eine Konstruktion ohne Ausweis, denn niemand hat sie urkundlich festgehalten. Niemand versteht die Kultur der Lastwagenfahrer, deren Position durch Satelliten ermittelt und ueberprueft wird, das Leben derjenigen, die dauernd unterwegs sind, oder die Raeume derjenigen, die Tag fuer Tag vor ihren Instrumenten und Monitoren sitzen. Alle diese phantomartigen Menschen, alle diese Kaufhausangestellten, Maschinenueberwacher, Ausgangskontrolleure, Verkehrspolizisten, Sanitaeter, Mechaniker, Fliessbandarbeiter, Computerspezialisten fuer Notfaelle, Wartungsmonteure, Reparateure von Photokopierern oder Sicherheitskraefte sind Schatten, die die Zukunft, nicht die Vergangenheit wirft. Sie sind die prototypischen, nicht in einer Gemeinschaft befindlichen Menschen der posturbanen Welt, die nur durch den globalen Herzschlag des Satellitenfernsehens, der UKW-Musik und der Radionachrichten verbunden sind. In ihrer Zukunft wird Zentralitaet ein unbekannter Begriff sein. Fuer sie wird eine materielle Architektur und der Urbanismus als Abkoemmling von alten Staedten aus der Vergangenheit etwas sein, was man vermeiden sollte, was mit Gefahr, Strafen, Verstopfung und Verspaetung assoziiert wird, was man besser vergessen sollte. Und fuer sie hat das Vergessen bereits begonnen. 7. Die faktische und die fiktive StadtZivilisatorisch befinden wir uns heute im Stillstand. Wir erwarten den endgueltigen Absturz des realen und den Aufstieg des virtuellen Bau- und Grundstueckmarktes, der diesen alternativen Urbanismus zu seiner wahren Bedeutung emporfuehren wird. Bevor dieser jedoch kommen wird, leben wir in einer Zeit der Doppelexistenz von "architektonischen Koerpern" und "Informationskoerpern" - von geschaetzten, aber besiegten Staedten und von ungeliebten, aber triumphierenden Nicht-Staedten. Es ist eine Zeit, die der japanische Architekt Toyo Ito anschaulich beschrieben hat. Er sieht in seinem eigenen Land eine Gesellschaft, die "durchdrungen ist von Information und durchbohrt von Kommunikationssystemen. Es ist eine Gesellschaft, in der jeder zwei Koerper besitzt: einen 'realen' Koerper, der aus seiner materiellen Praesenz besteht, und einen 'fiktiven' Koerper, dessen Umriss durch die Information bestimmt wird, die an ihn gerichtet wird oder die er empfaengt."Nach Itos Ansicht haben diese beiden "Koerper" im Alltagsleben noch keine klaren Unterschiede, doch wird der "fiktive" Koerper immer fordernder. Die Praesenz und das Wachstum unserer "fiktiven Koerper" wird nach ihm bald alle gemeinschaftlichen Bande in unseren Staedten aufloesen. Gemeinschaften, ortsgebundene Milieus und Familien und all ihre auf koerperliche Face-to-Face-Begegnung basierenden Beziehungen werden durch Beziehungen zwischen "fiktiven Koerpern" ersetzt werden, die keinen Raum benoetigen. In der Stadt wird eine Art Desozialisierung stattfinden, wodurch sie als "fiktionale" Struktur wahrgenommen wird, deren Raeume nicht mehr erforderlich sind, um die Beduerfnisse einer "realen" Bevoelkerung zu erfuellen. Dann wird die Nicht-Stadt von nicht linear beschreibbaren Unterkuenften als die einzige "reale" Antwort erscheinen. Flusser und Ito sind in dieser Hinsicht Visionaere. Flusser starb in tragischer Angemessenheit in dem entstaedterten Niemandsland, ueber das er spekuliert und das er gefuerchtet hat. Er wurde an einem Wintermorgen 1991 durch einen Autounfall getoetet, als er sich auf dem Weg von einem Hotelzimmer in Prag zum Fruehstueck nach Wien befand. Sein Tod fand irgendwo in der entkoerperlichten Metropolis des elektronischen Uberall statt, in diesem ephemeren, entropischen, nicht-architektonischen Raum, der die Weltstadt der neuen Medien ist. Es ist eine Stadt, deren Schicksal es ist, in der Zukunft immerfort durch einen derart ephemeren und anonymen Prozess des raumumschliessenden Bauens geformt und umgeformt zu werden, dass sie auf keinerlei Verbindung mehr mit der grossen Architektur der Geschichte Anspruch erheben wird. Text: Martin Pawley (c) 1995 |