Philippe Quéau

Virtuelle Visionen



Am Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte Edward Gordon Craig in seinem Buch "Ueber die Kunst des Theaters" das Projekt, eine "Uebermarionette" zu schaffen, um sich der Schauspieler zu entledigen: "Der Koerper des Menschen ist von seiner Natur aus nicht geeignet, als Instrument fuer eine Kunst zu dienen." Weiter schrieb er, dass der "Schauspieler unfaehig dazu ist, seinen Koerper vollstaendig seinem Geist zu unterwerfen." Er wollte Bilder des Menschen konstruieren, die nicht unter der inhaerenten Schwaeche der menschlichen Natur litten. Ein seltsamer und paradoxaler Traum. Craig gehoerte zu jenen, die denken, dass das Ziel der Kunst nicht darin besteht, das Leben widerzuspiegeln, sondern dass das Leben die Kunst widerspiegeln muesse. Aus dieser Perspektive ist die UEbermarionette dem Schauspieler ueberlegen. Sie kann sich in den Dienst jeder Idee stellen, die sich der Kuenstler von seiner Kunst macht, ohne von den Beschraenkungen des Fleisches eingeschnuert zu sein. Sie steht so hoch ueber den menschlichen Zufaelligkeiten, dass sie gar an der Gottheit zu partizipieren scheint: "Die Marionette ist ein Nachkomme der alten Tempelgoetter aus Stein, sie ist das entartete Bild eines Gottes." Sie ist weder menschlich noch lebendig. Daher ist sie nach dem Trugschluss von Craig mehr als menschlich und mehr als lebendig. "Die UEbermarionette steht nicht in Konkurrenz zum Leben, sie geht ueber es hinaus; sie stellt keinen Koerper aus Fleisch und Knochen dar, sondern einen Koerper im Zustand der Extase, und je mehr aus ihr ein lebendiger Geist entstroemt, desto mehr wird sie die Schoenheit des Todes bekleiden."

Mit den virtuellen Klons, so denken wir, nimmt der Traum Craigs in allen seinen Konsequenzen wie die Perspektive einer neuen Goetzenanbetung Form an. Der Klon ist eine "UEbermarionette" mit beeindruckenden und bizarren Moeglichkeiten. Die verwirrendste Moeglichkeit ist, dass er es dem Leben, dem Leben aus Fleisch und Blut, gestattet, sich auf innigste Weise mit substanzlosen Masken zu verschmelzen, die es mit einer gefaehrlichen und faszinierenden Schoenheit bekleiden. Beim Eintreten in die Welt der Klons verlassen wir nicht wirklich die reale Welt, sondern wir "erweitern" sie durch die neue Dimension einer reinen Virtualitaet, die sich mit der Realitaet kreuzen laesst.

In das Virtuelle hineinzutauchen, ist eine Art der Geburt. Man geht aus der realen Welt wie aus einen Uterus heraus und faellt in eine Welt, die ein wenig kalt, ein wenig klinisch ist. Der Koerper gelangt in das Virtuelle wie durch einen Einbruch. Man taucht auf - und von da an veraendern sich die Gesetze. Zeit ist noetig, damit sich der reale Koerper und die virtuelle Welt aneinander gewoehnen und sich einander anpassen, denn das Virtuelle ist nicht nur eine Technik, es ist vor allen Dingen ein optischer Habitus. Das Virtuelle schliesst eine bestimmte Sicht der Dinge ein, eine Repraesentation der Welt, die man bewohnen, in der man sich einrichten, die man kolonisieren und poetisieren muss.

Im Virtuellen bleibt der Koerper die Verankerung in der Realitaet, der wir uns am meisten gewiss sein koennen. Aber die Techniken des Virtuellen bemuehen sich auch darum, den Koerper zu illusionieren oder ihn vorzutaeuschen, um ihn zu einer "virtuellen Realitaet" machen. Der Koerper bleibt der Garant des Realen, aber er wird auch zu einer neuen Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Daraus erwachsen unsere Verwirrungen und Widerspruechlichkeiten, die bislang den Philosophen des Zweifels von der Art Descartes' vorbehalten blieben. Der Koerper ist nicht virtuell, er ist fleischlich, er ist die Verkoerperung des eigentlichen Realen, von unserem Gefuehl, "in der Welt" zu sein. Aber er ist auch die Beute der Sinnestaeuschungen. Aus diesem alten und fundamentalen Dualismus bezieht das Virtuelle seine neuen Spannungen.

Bislang blieben wir vor den Bildern stehen, jetzt gehen wir in die Bilder hinein. Frueher gab man uns in der Welt Bilder zu sehen. Von nun an sind es die Bilder, die zu Welten werden. Zuvor waren die Bilder nur "Repraesentationen", die das Verlassen der eigentlichen Praesenz mit sich trugen, kuenftig bringen sie effektive "Praesenzen" mit sich, auch wenn sie nur virtuell sind. Die abwesenden Koerper sind dank ihrer "Klone" effektiv, d.h. als handelnde "da". Bis vor kurzem schien es so, als wuerden sich das Bild und die Sprache, die Geste und das Visuelle, das Nahe und das Ferne, die Erinnerung und die "wirkliche" Zeit einander widersprechen. In Zukunft werden diese Kategorien ihre Grenzen verlieren und ihre Bedeutungen werden sich ueberlagern. Unser Blick wird in den Netzen kreisen, unser Koerper, der fluessig und digital geworden ist, wird sich allen Metamorphosen anpassen. Unsere Beziehungen zu unseren Naechsten und unsere "Gemeinschaften" werden sich nach der Massgabe von Schluesselworten, Knowbots und "intelligenten Agenten" knuepfen und aufloesen.

Das Virtuelle: Raum oder Ort?

Das Virtuelle schlaegt eine neue Erfahrung des Raums vor. Das Eintauchen in ein Bild, die gestische Interaktion in Echtzeit mit dem virtuellen Raum, die Navigation und das Umherschweifen, was uns die Hyperbilder und der Cyberspace erlauben, fordern uns dazu auf. Aber sind diese virtuellen und sich verwandelnden Raeume wirklich Orte? Sind sie nicht eher Metaphern, beliebige Darstellungen ohne wirkliche Konsistenz, ohne wirkliche Substanz? Sind sie nicht eher Nicht-Orte? Die Frage ist nicht leer. Es geht darum, welche Art des Lebens man als Koerper im Virtuellen leben koennte, wenn das Virtuelle es uns ermoeglicht, uns menschlich, gefuehlsmaessig und intellektuell einzurichten, oder wenn diese virtuellen Orte niemals mehr als beliebige, kalte und vergaengliche Metaphern von moeglichen, aber nicht von wirklichen Orten sein werden. Anders gesagt: es geht um das Wissen, wie man das Virtuelle bewohnen, wie man in ihm arbeiten, sich mit anderen treffen, spielen und sich vergnuegen kann. Wenn man voraussagt, dass das Virtuelle die Repraesentationsformen des naechsten Jahrhunderts beherrschen wird, dann ist die Frage nicht ueberfluessig. Kann das Virtuelle vom Menschen kolonisiert werden oder wird es wie ein magischer und unbewohnbarer Mond, wie eine Welt neben der Welt sein?

Was ist der Unterscheid zwischen dem Ort und dem Platz? Der Raum ist nach Kant eine Bedingung a priori der Erfahrung. Der Raum geht den Seienden voraus, die sich in ihm einschreiben. "Man kann sich niemals vorstellen, dass es keinen Raum gibt." Der Ort hingegen gehoert dem Ding an, das sich schon "da" befindet. Der Ort ist ein Attribut des Dings. Es ist nicht das Ding, das zu einem Ort gehoert. Ist das Virtuelle ein Ort oder ein Raum? Nach meinem Verstaendnis hat es etwas von beiden, steht es zwischen ihnen.

Der virtuelle Raum ist niemals stabil. Er ist immer in Bewegung. Unaufhoerlich ist das Virtuelle in Bewegung: Dialektik des Bildes und der Sprache, des Bildes und des Modells, der Praesenz und der Repraesentation. Der virtuelle Raum ist ein Raum der Sprache, wo jedes Bild auf andere Bilder und andere Modelle verweist. Das Virtuelle ist ein multidimensionales Hyperbild, das verschiedene Ebenen des Sinns und der Wahrnehmung vermischt. Das Virtuelle ist essentiell beweglich, metaphorisch, metamorphotisch. Es ist kein topos, sondern ein tropos. Das Virtuelle ist eine Hyper-Trope (ein Hyperbild).

Im Virtuellen ist man nicht da, wo man ist, man ist da, wo man handelt, wo man sieht, wo man denkt, wo sich das Objekt unseres Begehrens oder unseres Willens befindet. Man muss also auf einen raeumlichen oder lokalen Begriff des Seiendes verzichten und ihn durch einen "intentionalen" oder gar "transzendentalen" Begriff ersetzen.

Die virtuellen Raeume stellen uns eine neue Art des Raums zur Verfuegung - den Cyberspace -, wo die Tropen und Metaphern in der Geometrie stattfinden. Durch das Wunder der Sprachspiele ist dort alles moeglich. Aber fuer diese Freiheit muessen wir teuer bezahlen - durch die wachsende Vermischung des Ortes mit dem Bild des Ortes, durch das Amalgam von "in" und "dort". Das Virtuelle derealisiert, delokalisiert, desorientiert, schizophrenisiert. Kann man sich in einem solchen Raum ansiedeln und ihn bewohnen? Kann man einen "gluecklichen" Cyberspace mit "Haeusern", "Kellern" und "Dachboeden" haben, so wie es in dem Raum moeglich ist, den Bachelard beschrieb?

Der Koerper

Das Virtuelle verknuepft das Bild und den Koerper, die Geste und das Visuelle, die Bewegung und das Gedaechtnis auf eine neue Weise. Aus der Tradition wuerden wir wissen, dass jeder Gesichtspunkt uns in einer Perspektive einschliesst und uns durch den Bezug auf einen Horizont situiert. Aber der Bildschirm des Virtuellen hat nur einen kuenstlichen, beweglichen,, zersprungenen, paradoxalen Horizont. Wie koennen wir uns jetzt unserer Identitaet und der Dauer der Dinge waehrend unserer Erkundungen versichern? Die traditionelle Vorstellung zog sich auf das Postulat zurueck, dass jeder Augenblick der Erfahrung, die wir von der Welt machen, mit dem vorhergehenden koordiniert werden kann. Die virtuelle Wahrnehmung fegt diese Koordination beiseite: nichts ist schwieriger, als genau zu wissen, was wir sehen. Mit dem Virtuellen kann ich die Dinge unter all ihren Oberflaechen ergreifen, kann ich virtuell in den Gegenstand hineinkommen. Dann kann ich ploetzlich die "Welt", den Horizont, den Gesichtspunkt wechseln. Diese neuen Fenster koennen untereinander durch komplexe, sich veraendernde Verknuepfungen verbunden sein. Die virtuelle Szene ist ein Geflecht, ein Knoten aus Verknuepfungen.

In der Welt verfuegen wir nie ueber mehr als eine bestimmte Perspektive und eine beschraenkte Macht. Aber im Virtuellen sind unsere Gesichtspunkte ohne Fundament. Man muss hier die Erscheinung der Phaenomene untersuchen und eher deren Moeglichkeitsbedingungen erraten als voraussetzen, dass sie Gegebenheiten sind. Im Virtuellen muessen wir auf Anhieb den bezweifelbaren Charakter nicht nur jedes visuellen Eindrucks, sondern auch jeder UEberlegung anerkennen. Das ist ein weitaus radikalerer Zweifel als der cartesianische: man darf nicht nur den Sinnen nicht trauen, sondern auch nicht der Vernunft selbst. Kritik des Sehens und Kritik des Glaubens, etwas zu sehen.

Wir sind unsere Koerper. Dieser Koerper ist die Wirkung einer bestimmten Welt mit bestimmten Eigenschaften. Der Koerper begruendet den Raum und die Struktur. Es gibt fuer mich keinen Raum, wenn ich keinen Koerper habe. Aber nur einen Koerper zu haben, genuegt nicht, man muss sich orientieren, sich durch eine Intention situieren, beispielsweise durch die Absicht, sich woandershin zu begeben, etwas zu ergreifen oder zu erkennen, etwas zu erkunden oder zu erforschen. "Abstrakte" Operationen wie vergleichen, zeigen, unterscheiden erfordern die Faehigkeit, Grenzen und Richtungen zu ziehen, Kraftlinien zu etablieren, in einem Wort: die Welt zu organisieren. Das ermoeglicht die "abstrakte" Bewegung, indem sie den Koerper von seiner Ausrichtung "auf die Welt", von seinen Bestimmungen und natuerlichen Einschraenkungen befreit.

In der Psychiatrie berichtet man von Faellen "psychischer Blindheit", wenn der Kranke mit geschlossenen Augen keine "abstrakten" Bewegungen ausfuehren kann, d.h. wenn es ihm nicht moeglich ist, willkuerliche Bewegungen auszufuehren, die nicht in Bezug auf "wirkliche" Situationen stehen. Das kann der Befehl sein, willkuerlich einen Arm zu heben oder einen Finger abzubiegen. Die Psychologen ziehen daraus den Schluss, dass "greifen" oder "beruehren" sich auf einen anderen Raum, auf ein anderes Koerperschema beziehen als "zeigen". Auf etwas hinzuweisen heisst nicht, etwas nehmen.

Genau wie der Akt des Bezeichnens setzt der Akt des Zeigens voraus, dass das Objekt in der raeumlichen Entfernung belassen und nicht ergriffen wird. Folglich ist die Unterscheidung der konkreten und der abstrakten Bewegung, des Greifens und des Bezeichnens fast mit dem Unterschied zwischen dem Physiologischen und dem Physischem, zwischen dem An-Sich und dem Fuer-Sich aequivalent.

Die konkrete Bewegung ist koerperlich, zentripetal. Sie stuetzt sich auf das Selbstgefuehl, auf das Seinsgefuehl. Die abstrakte Bewegung ist virtuell, zentrifugal. Sie wendet sich zum Anderen, zum Nicht-Sein hin. Erstere gehoert dem Wirklichen, der Natur an, letztere loest sich von ihrer eigentuemlichen Wirklichkeit: sie ist eine Projektion unserer subjektiven Freiheit und jeder fuehrt sie auf seine Weise aus.

Fuer die Phaenomenologen existieren diese beiden Bewegungsformen nicht nebeneinander, sondern sie bilden eine "ganzheitliche Erfahrung", aus der man die verschiedenen sensorischen Komponenten nicht herausloesen kann. Im Wirklichen vermischen sich die taktilen und visuellen Daten. Wir, die wir ins Virtuelle eingetaucht sind, wissen sehr wohl, dass man die verschiedenen Kanaele nach Belieben dosieren kann.

Es gibt verschiedene Weisen, in seinem (virtuellen) Koerper zu sein. Der virtuelle Raum ist eine Art des mentalen Panoramas mit deutlichen und verschwommenen, verworrenen Regionen. Wir koennen uns eine oder mehrere Welten geben und sie vor uns stellen, wobei wir uns in ihnen befinden. Man kann seine Gedanken wie Dinge erscheinen lassen, die man hervorheben, besuchen und verlassen kann. Das Virtuelle ist ein reiner Raum der Repraesentation im eigentlichen Sinn. Man kann dort Welten beherrschen und ueberfliegen. Tatsaechlich sind wir nicht wirklich im Virtuellen, es waere besser zu sagen, dass wir uns auf dem Virtuellen befinden - so wie wir auf der Lauer liegen.

Der Koerper ist unser Anker in der Welt. Die Erfahrung des eigenen Koerpers verwurzelt uns in der Existenz. Durch und mit unserem Koerper lernen wir das "Netz der Existenz und der Essenz" kennen. Doch ist dieser "Anker", diese "Verwurzelung", dieses "Netz" im Virtuellen auf folgenreiche Weise einbegriffen. Das Denken und die Wahrnehmung befreien sich vom wirklichen Raum, vom wirklichen Koerper. Alles, was wir "durch" den Koerper und "in" ihm gerlernt haben, kann uns nicht wirklich mehr dienen.

Im Virtuellen bin ich nicht mehr in meinem Koerper, bin ich nicht mehr mein Koerper: ich bin vor meinem Koerper. Das ist genau die Situation, die Phaenomenologen als "Krankheit" oder als "Halluzination" behandeln. Beispielsweise haben manche Kranke die Halluzination, ihr eigenes Gesicht von innen zu sehen. Die virtuellen Klons ermoeglichen es uns, tatsaechlich diese Erfahrung zu machen.

In dem Experiment von Stratton, das dieser 1930 durchgefuehrt hat, laesst man eine Versuchsperson eine Brille tragen, die die Retinabilder umkehrt. Die Ansicht erscheint zunaechst irreal und auf den Kopf gestellt. Am zweiten Tag steht die Ansicht nicht mehr auf dem Kopf, sondern man hat das Gefuehl, dass sich der Koerper in einer anormalen Position befindet. Zwischen dem 3. und dem 7. Tag passt sich der Koerper immer besser an und scheint sich schliesslich in einer normalen Position zu befinden, was besonders dann der Fall ist, wenn man irgendetwas macht. Wenn die Versuchsperson aber unbeweglich auf einem Bett liegt, dann repraesentiert sie ihren Koerper noch immer auf dem Boden des alten Raumes. Schlussfolgerung: Wir sind nicht in den Dingen, wir haben sensorische Felder, Systeme, die in Erscheinung treten lassen. Die Strukturen und die Wahrnehmungen verknuepfen sich dynamisch.

Die Erfahrung des Virtuellen ist mit diesem verknuepften und verknuepfenden Raum vergleichbar. In dem Experiment von Wertheimer, das auch vor dem Krieg durchgefuehrt wurde, erzeugt ein Spiegel, der mit einer Neigung von 45 Grad auf der Wand eines Zimmers angebracht wurde, ein ungewohntes optisches Feld, das so wirkt, dass man die in diesem Zimmer sichtbaren Objekte nicht mehr "ergreifen" kann. Aber man wird innerhalb weniger Minuten dort leben koennen, wenn man die virtuellen Beine und Haende "spuert", die man braucht, um in diesem optisch erzeugten virtuellen Raum sich zu bewegen und in ihm zu handeln. Der agierende Koerper wird mit dem von der Szene erforderten virtuellen Koerper zusammenfallen. Das bestaetigt die extreme Plastizitaet des Wirklichen, wenn man sich den Erfordernissen des Virtuellen anpasst.

Man hat daraus den Schluss gezogen, dass die virtuelle Welt eines Tages "bewohnbar" werden koennte, da unsere Anpassungsfaehigkeit so gross ist. Hat uns die wirkliche Welt selbst nicht durch ein Double, das zur Welt gekommen ist, daran erinnert? Kommen wir auf unsere eigene Geburt zurueck.

Man wird im Raum geboren und kommt "in die Welt", wenn man geboren wird. Wir sind mit dem Schoss unserer Mutter verwoben gewesen. Deswegen konnten wir vielleicht "an die Welt" glauben, da wir eng, mit allen unseren Fasern, mit dem muetterlichen Uterus verbunden waren. Aber diese wirklich urspruengliche Empfindung der Welt ist uns ohne Hoffnung auf Wiederkehr verloren gegangen, als wir "in" die Welt hineingeboren wurden. Nach dem Trauma der Geburt koennen wir diesen Bruch, diesen Uebergang nicht mehr vergessen. Unsere Initiation in die Welt ist diese zunehmende Einwebung in die Welt gewesen - und dann dieser brutale Wurf in die Welt hinaus. Das ist also eine zweifache Erfahrung. Das Virtuelle ist dabei eine Anamnese, eine vom Willen simulierbare Erinnerung, aber auch ein Feld der Erkundung.

Die anregendste Lektion des Virtuellen kommt daher aus einer ontologischen Ebene. Sie durchquert gaenzlich unser Koerpergefuehl. Wir koennen unseren Platz, unsere Position, unseren Gesichtspunkt verlassen, Allgegenwart und andere "Bereiche der Anwesenheit" gewinnen - ohne Bezug zum "wirklichen Raum". Ende der Verankerung. Irrfahrt ohne Ziel.

Virtuelle Visionen

Die Halluzination ist durch die "schwindelerregende Naehe des Objekts" charakterisiert. Wenn man dieser Definition folgt, dann ist das Virtuelle in seinem Wesen halluzinogen. In ihm sind wir auf schwindelerregende Weise "in" den Objekten. Man muss lernen, sich von dieser Pseudo-Naehe zu loesen, um eine begriffliche, eine kritische Distanz zu erzeugen. Wir muessen "aus" der Welt fliehen, wir kehren im Bewusstsein zurueck, dass wir "in" der Welt sind.

Fuer die Phaenomenologen ist "der Raum existentiell und die Existenz raeumlich". Sie verlangen daher, dass man sich ueber die Welt "wundert" und dass man aufhoert, ein "Komplize" von ihr zu sein, dass man aus ihr "aufwacht". Aufwachen heisst, letztlich nicht mehr das Wirkliche mit dem Vorgestellten zu verwechseln. Aber wie macht man das? Der Unterschied zwischen dem Imaginaeren und dem Wirklichen besteht darin, dass das Imaginaere nur die Tiefe besitzt, die wir ihm verleihen koennen, waehrend sich das Wirkliche einer wahrhaftig unendlichen Erkundung oeffnet, da es unerschoepflich ist. Aber das Virtuelle simuliert auch in einer gewissen Weise diesen unerschoepflichen Charakter der Erkundung. Das laesst sich nicht nur aus der symbolischen Produktivitaet der Mathematik oder der formalen Sprachen erklaeren, sondern auch daraus, dass das Virtuelle in seiner Weise dem Wirklichen angehoert. Das Virtuelle ist nicht das Wirkliche, aber es streift das Wirkliche. Es befindet sich neben dem Wirklichen mit der ihm eigenen Unendlichkeit. Man kann sagen, dass das Virtuelle ein neuer Zustand des Wirklichen ist.

Was ist das Wirkliche? Die wirkliche Welt ist nicht nur meine Welt wie in den Traeumen, es ist eine Welt, in der ich anderen begegnen kann. Aber das Virtuelle ist auch eine Welt, in dem ich dem Anderen "begegne", und dies sogar symbolisch.

Die wirkliche Welt ist rauh, widerstaendig und unbelehrbar. Doch das ist die virtuelle auch. Man kann dank oder mit dem Virtuellen in die Welt des Geschaefts oder in eine Gemeinschaft eintreten. Doch gibt es einen andere Aspekt des Virtuellen - einen halluzinatorischen. Zum Beispiel den der Spiele oder des Cybersex, wo man aus jeder wirklichen Gemeinschaft fluechtet, um sich eine private, fiktive, schizoide Hoehle zu graben.

Das Virtuelle besitzt diese beiden Aspekte. Der eine ist dem Wirklichen zugewandt und erlaubt, an ihm entlangzufahren, der andere ist dem Imaginaeren zugewandt und erlaubt, eben dieser Wirklichkeit zu entfliehen. Man muss zu der kritischen Anstrengung faehig werden, fuer diese beiden Aspekte die Verantwortung zu uebernehmen und die Mittel erwerben, sie auseinanderhalten zu koennen.

Wir denken, dass das Virtuelle nicht wirklich ein Teil "von" der Welt ist. Es geht keineswegs darum, das Virtuelle "aus dem Spiel" zu bringen, man muss es unaufhoerlich ins Spiel bringen. Wir muessen das Wirkliche und das Virtuelle ins Spiel bringen. So koennen wir das eine durch das andere wie das Eisen durch das Feuer mit dem Risiko der Verwirrung auf die Probe stellen. Aber das ist eine heilsame Erprobung. Sobald wir durch den Blick und durch die Intelligenz die Knoten des Wirklichen und des Virtuellen loesen koennten, sobald wir das Sehen und das Glauben voneinander geloest haetten, wuerden wir das Spiel der Erscheinungen besser beherrschen koennen. Dann haetten wir gelernt, hinter die wirklichen oder virtuellen Bilder zu gehen.

Mit welchem Einsatz sollen wir das Wirkliche und das Virtuelle ins Spiel bringen? Das reicht bis an das Wesen des Sehens oder des Blicks heran. Husserl sagt, dass es zwei Formen der Anschauung gibt. Das Sehen der Akzidentien und das der Essenzen. Er fordert ein weitaus allgemeineres Wort, das beide Formen der Anschauung umfassen kann, und schlaegt als "hoechsten Begriff" den der Evidenz vor.

Wir denken im Gegensatz zu Husserl, dass es niemals etwas Evidentes gibt. Wir koennen niemals die Akzidentien und die Essenzen mit ein und demselben Blick umfassen. Wir denken, dass jede Evidenz ent-leert (e-videe) werden muss (das verweist auf die Entbildung von Meister Eckart), d.h. dass sie selbst aus den Fesseln befreit, in das Spiel, in den Zweifel, in den Wettkampf zurueckgebracht werden muss. Man kann das Glauben und das Sehen nicht verbinden. Das Glauben geht dem Sehen voraus, aber das Sehen steht hoeher als das Glauben. Man darf sie nicht verwechseln. Die Dialektik des Glaubens und des Sehens bringt auf irreduzible Weise diejenigen, die glauben, ohne gesehen zu haben, mit jenen in einen Gegensatz, die sehen, ohne zu glauben. Glauben und Anschauung verwenden nicht dieselben Bilder.

Es gibt zwei Sorten von Bildern. Solche, die in ihrem Wesen nichts mit dem gemeinsam haben, wovon sie Bilder sind, und die Bilder, die dasselbe Wesen haben wie das, wovon sie Bilder sind. Beispielsweise ist das Bild eines Menschen kein Mensch. Das waere ein Bild des ersten Typs. Ein Sohn hingegen ist das Bild seines Vaters und partizipert an seinem Wesen. Das waere ein Bild des zweiten Typs. Die virtuellen Bilder vereinigen diese zwei Bildarten auf innigste Weise, indem sie beispielsweise so muehelos Praesenz und Repraesentation verschmelzen.

Es wird fundamental und lebensnotwendig, im Virtuellen das voneinander zu unterscheiden, was der Ordnung des Begriffs und was der Odnung der Wahrnehmung angehoert, was den Glauben naehren kann und was niemals nur eine einfache Anschauung ist. Glauben oder Sehen: man muss waehlen, in welches Lager wir wollen.

Aus dem Franzoesischen von Florian Rötzer


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