Florian Roetzer

TelePolis

TelePolis ist die Vision einer auf Computernetze, auf Kabel- und Satellitenverbindungen gestützten globalen Gesellschaft. Man kann wie durch Türen oder Tore in die virtuellen, nur aus Daten bestehenden Räume und Welten der vernetzten Computer hineingehen, die sich mehr und mehr beleben, in denen mehr und mehr Aktivitäten stattfinden, in denen neue Arbeits-, Kommunikations-, Informations- und Unterhaltungsformen entstehen, ja sogar Formen einer Tele-Existenz und von Tele-Gemeinschaften, die zwar anders als die Existenz im wirklichen Leben sind, wohl aber in vielfältiger Weise auf dieses zurückwirken und es verändern.

TelePolis schafft eine andere Öffentlichkeit als die elektronischen Massenmedien. Hier hat wie beim Telefon jeder die Möglichkeit, mit jedem anderen in Kontakt zu treten. TelePolis ist prinzipiell ein Ort der Individuen, nicht der Massen. Obgleich die Massenmedien in TelePolis integriert werden, ist es die Eigenschaft ihrer Schnittstellen, interaktiv und multimedial zu sein. Der Benutzer kann nicht nur aus fertigen Produkten auswählen, er kann in sie eingreifen, sie verändern, das Angebot auf sich zuschneiden, während er gleichzeit individueller angesprochen werden kann.

TelePolis wird besiedelt. Jeder Anschluß an die Netze vergrößert die Population. Wie eine gewöhnliche Stadt hat TelePolis viele Orte, beherbergt es viele Milieus. Hier findet man alles, was es auch im wirklichen Leben gibt: Geschäftsleute, Militärs, Spekulanten, Wissenschaftler, Dandys, Politiker, Intellektuelle, Esoteriker, Kriminelle oder Spieler. Nicht nur große Institutionen, sondern auch Minderheiten jeder Art bevölkern TelePolis. Ihr Treffpunkt heißt Cyberspace.

TelePolis ist neuer, kaum in seinen Dimensionen abzusehender, vielgestaltiger Datenraum, an dem fieberhaft gebastelt und gebaut, der ebenso von Utopien wie von Ängsten besetzt wird. TelePolis ist nicht nur ein Marktplatz, auf dem Informationen in Worten, Texten, Tönen und Bildern ausgetauscht, bearbeitet und gehandelt werden. TelePolis ist auch selbst ein riesiger Markt, um den gekämpft wird, weil er für Staaten und Unternehmen wirtschaftlich, technisch, politisch und kulturell bedeutsam ist.

TelePolis bedeutet, daß es ein Leben, einen Raum, eine Wirklichkeit, eine Öffentlichkeit, eine Gemeinschaft gibt, die eigentlich nirgendwo, die ortlos sind. TelePolis hat gleichwohl Straßen, Plätze, Mauern, Türen und Fenster, Orte, die zugänglich sind, oder solche, zu denen der Zutritt versperrt oder in irgendeiner Weise geregelt wird. TelePolis überlagert oder ersetzt viele Funktionen der herkömmlichen Polis, die auf der räumlichen Verdichtung, auf der Nachbarschaft und auf der Zentralität beruhen, weil der Raum, an dem man sich befindet, immer unwichtiger wird, um bestimmte Tätigkeiten auszuführen.

TelePolis führt zunächst zu neuen Brüchen und Verschiebungen: zwischen räumlich Nahem und Fernen, zwischen der Bindung an den lokalen Raum, in dem Körper und Maschinen sich befinden, und dem Anschluß an virtuelle Räume, in denen man sich gleichzeitig aufhält, zwischen Formen des Verhaltens, die man einnimmt, wenn man hier ist, und jenen, die man praktiziert, wenn man virtuell dort ist. Wir befinden uns gleichzeitig in zwei, wenn nicht gar in drei Räumen: hier, wo unser Körper ist, im virtuellen Raum, in den wir durch die jeweiligen Schnittstellen gelangen, und vielleicht an einem weit entfernten oder unzugänglichen Ort in der wirklichen Welt, wo wir über Techniken der Telepräsenz etwa mit einem Roboter verbunden sind, mit dessen Kameras wir sehen, mit dessen Mikrofonen wir hören, mit dessen Fortbewegungsmitteln wir uns bewegen und mit dessen Greifwerkzeugen wir arbeiten.

TelePolis ist kein global village, wie dies McLuhan meinte und prophezeite, daß sich die Städte bald auflösen würden. TelePolis ist eine kaum überschaubare, explodierende Megastadt, die aus den alten Städten herauswächst, alle Regionen in eine Stadtlandschaft zusammenfaßt und eine Kosmopolis bildet. TelePolis ist genauso auf einem Bauernhof, auf einem Dorf oder mitten in der Stadt. In TelePolis zu sein, kann auch heißen, sich am Strand, in der Luft, auf dem Wasser oder sonst irgendwo zu befinden. TelePolis verwischt die herkömmlichen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, ebenso wie die zwischen Arbeit und Freizeit.

TelePolis ist eine Megastadt nicht aus Ziegeln, Glas, Beton und Asphalt. Ihre Bausteine sind zugleich die Zugänge zu ihr. In TelePolis kann man nur eintreten, wenn man über die Techniken verfügt. TelePolis ist auch eine Technopolis. Sie wird bevölkert nicht nur von Menschen, die über Maschinen miteinander kommunizieren und immer nomadischer werden, auch Roboter und virtuellen Lebewesen werden hier zu finden sein, während die Geräte, Wohn- und Arbeitsorte der Menschen immer "intelligenter" werden, die Technik dem Menschen immer mehr auf die Haut und unter die Haut geht. In TelePolis wird es immer mehr immversive Medien geben, die die Menschen wie die noch martialischen Ritterrüstungen der Virtuellen Realität von ihrer Umwelt abschließen, es wird auch neurotechnologische Implantate geben. Möglicherweise ist "Biosphäre II", eine von ihrer Umwelt abgelöste, autonome, nur durch Telekommunikationsmittel mit anderen Biosphären verbundene technisch-ökologische Insel das Element, aus dem die zukünftige TelePolis gebaut wird.

TelePolis wird politische Strukturen, Arbeitsweisen, Organisationsformen, die Lebenswelt und das menschliche Dasein verändern. TechnoPolis ist keine Utopie, denn sie ist im Entstehen, wir haben die Schwelle bereits überschritten und befinden uns schon in ihr - mit allen Möglichkeiten, Risiken, Konflikten und Folgen, die sich noch gar nicht übersehen lassen.

TelePolis scheint sich in Richtung Ortlosigkeit zu bewegen. Sie scheint den Raum und die Materialität zugunsten der Zeit und der Virtualität zu negieren. Gleichwohl wird TelePolis auf den Fundamenten der alten Städte, des umbauten Raumes und der Verkehrswege sowie auf den Formen urbanen Lebens gebaut, die seit den Medien, Telekommunikations- und schnellen Transportmitteln längst das Land und die Dörfer erreicht haben. TelePolis steigert vermutlich die Seßhaftigkeit bei aller Mobilität in den Netzen, erweitert den privaten und von individuellen Entscheidungen geprägten Bereich, aber sie ist, wie früher die Stadt vom Land, abhängig von den städtischen Räumen, deren Funktionen und Gestalt sie teilweise übernimmt und teilweise verändert. Um das in einer Ausstellung zumindest mit zu thematisieren, werden die ausgewählten Elemente von TelePolis nach einigen wichtigen Funktionen geordnet, die unsere Städte (noch) räumlich charakterisieren.

Text: Florian Rötzer (c) 1994


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