Florian Rötzer

Urbanität in den Netzen oder: Vom Take-Over der Städte.



Eine Gedankencollage

Utopien, die sich auf urbane Raeume richten, sind heute weitgehend aus den Koepfen der Menschen verschwunden. Irgendwann vor nicht allzulanger Zeit ist eine Erosion eingetreten, obgleich der urbane Raum immer weiter wuchert. Die Modelle idealer urbaner Gemeinschaften besitzen ebensowenig Überzeugungskraft mehr wie jene Bilder, die uns Stadtplaner und Architekten vom verdichteten Raum vorgetraeumt haben. Man denke nur an die futuristischen Vorstellungen aus den sechziger Jahren, etwa an Constants Freizeitwelt New Babylon fuer den stets kreativen und nomadischen Homo ludens, der seine Umwelt permanent veraendert, an die Tricherstadt von Walter Ionas, an die Cluster von Arata Isozaki, an Nicolas Schoeffers Kybernetische Stadt oder die Einstoepsel-Stadt von Archigramm, um des Abstandes zur Gegenwart bewusst zu werden.

Irgendwie gelingen nur noch einzelne Bauwerke, jedoch keine geglueckten Bilder von Staedten mehr, und schon gar nicht realisierte Trabanten- oder Satellitenstaedte. Krampfhaft werden, getragen von der Angst vor dem Verschwinden, historische Bauwerke erhalten und saniert, als ob einzig durch die nostalgische Kulisse Kultur und Lebensqualitaet gewahrt werden werden koennten. Besonders der Ruf nach einer Wiedererfindung des urbanen oeffentlichen Raums ist derzeit wieder laut zu hoeren, die Ideen schliessen sich allerdings, rueckwaerts gewandt, an Idealisierungen alter Staedte und ihrer vermeintlichen Lebensgemeinschaften an. So schreibt etwa Richard Rogers, dass "die Frage nach der Architektur im oeffentlichen Raum geloest" werden muesse, dass "leere Plaetze" zu "dynamischen, belebten Strassen und Plaetzen" werden sollen, dass es die "primaere Funktion der City" sei, den Menschen als "Treffpunkt" zu dienen. Dahinter steht das Bild einer südlaendischen Stadt, einer, so Colin Rowes in seinem "Offenen Brief zur verschwundenen Öffentlichkeit", res publica als jenem "oeffentlichen Bereich, der frueher sowohl Menschen als auch Dinge verband und trennte, der Gemeinschaft herstellte und gleichzeitig Identitaet sichtbar machte." Aber wollen wir, trotz aller nostalgischen Gefuehle, wirklich noch diese OEffentlichkeit? Beginnt nicht hinter dem Ruecken der traeumenden Architekten und Urbanisten ein anderer öffentlicher Raum in den virtuellen Welten der Telekommunikationsmedien zu entstehen?

Wir, die wir noch in den Kernen von Staedten wohnen und dies noch immer, wenn auch halbherzig und am besten mit Zweitwohnsitz auf dem Land, wollen, richten uns, wenn irgend möglich, in den verbliebenen Resten der alten Stadtkerne ein. Fand man sich bislang mit den Belaestigungen und Gefaehrdungen wie Massen, Kriminalitaet , Dreck oder Laerm ab, weil man am Leben einer Großstadt teilhaben wollte, so ist diese Akzeptanz heute in weiten Schichten nicht mehr vorhanden. Der Schritt in die Vorstadt oder gar der in eine der oeden Einfamilienhaussiedlungen wird vielfach nicht aus Lust getan, sondern aus vermeintlichen Notwendigkeiten: Kinder, Geldanlage, Alterssicherung, Suche nach Ruhe und etwas gesuenderer Umgebung, der Zwang, nahe an der Arbeitsstelle zu bleiben und andere, beispielsweise kulturelle, Angebote weiterhin verfuegbar zu haben, ohne sie deswegen auch intensiv nutzen zu muessen. Aber dieser Schritt ist auf jeden Fall ein Schritt aus der Stadt heraus, obwohl sie an der Peripherie noch keineswegs zu Ende ist. Es ist ein halbherziger Schritt in die Ruralisierung der Stadt, in ihre endlose Ausbreitung, in die gestaltlose Durchmischung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitbereichen, die moeglicherweise auch immer mehr in die Wohnungen selbst einziehen wird, wenn dank der Netzwerke die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes zunimmt.

Diese Ruralisierung von weiten Bereichen staedtischer Agglomerationen laeuft der Urbanisierung der Doerfer und Kleinstaedte parallel, die sich dem Erscheinungsbild der staedtischen Vororte naehern, nur dass sie den Zentren raeumlich ferner sind. Seit der Zeit der Industrialisierung, in der die Staedte explodierten, fand auch die ambivalente Gegenbewegung statt: der Wunsch nach Aufloesung der urbanen Verdichtungen in Gartenstaedte, die die einst scharf nach aussen begrenzte Stadt und das Land miteinander verschmelzen sollten. Utopien der Stadterneuerung zielten vor allem darauf, die Unuebersichtlichkeit und Anonymitaet urbanen Lebens in kleinere Untereinheiten lokaler Gemeinschaften und OEffentlichkeiten, gewissermassen in vermeintlich ueberschaubare Kleinstaedte, aufzuloesen. Nur standen diese Hoffnungen bereits im Kontext einer Privatisierung des oeffentlichen Lebens, die nicht zu einer neuen OEffentlichkeit in der Stadt, sondern zu einer weiteren Einbunkerung in kulturellen Szenen, Wohnungen und Haeusern gefuehrt hat - verstaerkt durch die gestiegene Mobilisierung der Menschen und die Moeglichkeit, sich ueber die Medien und Kommunikationstechnologien in eine Öffentlichkeit einzuklinken, die raeumliche Naehe negiert.

Schon mit dem Einzug von Telefon, Radio und Fernseher ist die Wohnung kein Ort des Privaten mehr. Sie oeffnet sich dem Aussen, wird durch die Kommunikation in Echtzeit gewissermassen mobil. Die Geschichte des privaten Lebens und seiner Enklaven ist heute rueckgekoppelt mit einem globalen Informationssystem, dem sich die Menschen jeden Tag ueber Stunden aussetzen. Elektronische Kommunikations- und Informationstechnologien ueberbruecken die Entfernungen, lassen die Frage nach den Standorten fuer viele Aktivitaeten nebensaechlich werden, nivellieren regionale Unterschiede und lassen jeden, der an die Netze angeschlossen ist, an der globalen Öffentlichkeit teilhaben, die freilich, analog zur Dezentralisierung der urbanen Funktionen, immer weiter partikularisiert wird. Auch in grossen Staedten gibt es nie die OEffentlichkeit, sondern viele kleine und kleinste, die raeumlich benachbart sind, miteinander konfligieren oder aufeinander einwirken. Ähnlich wie man in der Stadt von einer OEffentlichkeit in die andere wandern konnte, laesst sich heute schon durch eine Vielzahl von Programmen der zerfallenden Massenmedien zappen, reist man durch die Datenbanken und Kommunikationsmoeglichkeiten der Computernetze, deren Angebote immer spezialisierter und ueberschneidungsfreier werden. Noch ziehen die Menschen immer weiter hinaus, um den sozialen sowie oekologischen Problemen der Stadt zu entfliehen und gleichzeitig den Anschluss nicht zu verlieren. Autos, Schnellzuege, S-Bahnen ermoeglichen es, unter Einsatz von Lebenszeit, viele Kilometer entfernt von den Staedten zu wohnen und gleichzeitig von ihren Moeglichkeiten und Angeboten zu profitieren.

Diesem Exodus folgen auch Unternehmen, weil das Bauland billiger ist und schnelle Erreichbarkeit oft besser gesichert ist als in einer zentralen staedtischen Lage mit mangelnden Parkplaetzen und Staus. In den Mischzonen zwischen Stadt und Land verfallen die Unterscheidungen zwischen Zentrum, Peripherie und Umland, gibt es oft keine klaren Trennungen mehr zwischen Wohn-, Einkaufs-, Dienstleistungs- und Produktionsbereichen mehr, verfaellt die urbane Verdichtung in die Richtung eines "abstrakten Urbanismus".

1981 kam der Film "Die Klapperschlange" von John Carpenter in die Kinos. Es handelt sich um eine radikale Anti-Utopie, um den Abgesang auf die Stadt, um eine Wiederbelebung des Bildes von der Hure Babylon. Zu Beginn erlaeutert eine Stimme aus dem Off die Situation: "1988 steigt die Verbrechensrate in den Vereinigten Staaten um 400 Prozent. Die ehemals freie Stadt New York wird das einzig ausbruchssichere Gefaengnis des Landes. Umgeben wird dieses Gefaengnis von einer 20 Meter hohen Mauer ... Sie umgibt ganz Manhattan Island. Alle Bruecken und Wasserstrassen sind vermint. Die Polizei der Vereinigten Staaten ist wie eine Armee um die Insel herum stationiert. Innerhalb des Gefaengisses gibt es keine Waechter, sondern nur Gefangene und eine Welt, die sie selbst geschaffen haben. Die Regeln sind einfach: wer erst einmal drin ist, kommt nicht wieder heraus." Wieder werden in den gegenwaertigen Krisengebieten die Staedte zu solchen Gefaengnissen, deren Haeuser zerbombt, deren Einwohner vertrieben werden. Mit der Ausloeschung der Staedte werden die alten Machtzentren vernichtet, um vielleicht hinterruecks die Bahn fuer eine neue Machtstruktur freizumachen, die nicht mehr in raeumlich verdichtete Zentren verankert ist. Die Stadt, die einst Freiheit versprach, aus der heraus regiert wurde und in der sich Macht, Kapital, Industrie und Intelligenz konzentrierte, deren Öffentlichkeit die Grenzen moralischer Zumutungen verschob, Heterogenes aufeinanderprallen liess und experimentelle Lebensweisen in Mikrokulturen erlaubte, wird zum Ort der Einsperrung, aus dem Flucht nicht mehr moeglich erscheint, zu einem Ort, den man sich selbst ueberlaesst, der ins Chaos zurueckfaellt, dessen OEffentlichkeit nur noch Bedrohung oder Abenteuer ist, dessen umbaute Innenwelten fuer die Finanzkraeftigen ausgebaut und gesichert werden muessen, man sich nur noch in bestimmten Vierteln aufhaelt und mitunter die oeffentlichen Verkehrsmittel meidet. Allmaehlich zerfallen die Staedte in immer kleinere atomare Zonen und Zellen, die gerade jenes Moment urbanen Lebens, die Freizügigkeit und die Vermischung des Heterogenen, durch Zugangsbeschraenkungen, Angst und Überwachung ausloeschen. Manche Staedte erscheinen bereits als permanente Buergerkriegsgebiete. "Sicherheit ist", so beschreiben Hartmut Haeussermann und Walter Siebel hinsichtlich von New York die staedische Zukunft, "eines der wichtigsten Qualitaetsmerkmale einer Wohnung oder eines Bueros, und die Ausstattung mit entsprechender Technik ist schon zu einem Statussymbol geworden: armed response."

Die Stadt, Ur- und Vorbild einer absolut kuenstlichen Welt, geht allmaehlich ihrem schon laenger prognostizierten, immer wieder von Wuenschen nach ihrer Resurrektion skandierten Ende entgegen. Damit ist natuerlich nicht gemeint, dass die grossraeumigen urbanen Konglomerationen verschwinden werden, wohl aber einige ihrer Funktionen, die bislang ihre Zentralitaet begruendet und auch den Mythos der Stadt getragen haben. Die Rettung durch Ansiedelung und Erweiterung von Kulturangeboten, wie sie in letzter Zeit mit der Ausrufung der Kulturgesellschaft betrieben wurde, scheint nicht bloss mit den sinkenden kommunalen Haushalten nicht mehr zu greifen. Die Krise der Kultur, die ja vorwiegend ein staedtisches Produkt war, greift tiefer, denn Kultur, die Produktion und Rezeption von Kultur, beginnt sich von jenen traditionellen Institutionen wie Oper, Theater oder Museum abzuloesen, die eine persoenliche Praesenz erfordern.

Mit Radio- und Fernsehgeraeten, mit Plattenspielern, Tonbandgeraeten und Videorecordern ist koerperliche Praesenz bereits nicht mehr notwendig, um ein audiovisuelles Spektakel zu konsumieren. Die breitbandigen, interaktiven Netzwerke verstaerken diesen Trend, weil sie eine individuellere Nutzung von Datenbanken, deren Verankerung an einem bestimmten Ort gleichgueltig ist, weiter vorantreiben. Sicher, die physische Praesenz des Konsumenten und die der Werke oder Auffuehrenden gewinnt dadurch eine verwandelte Wertschaetzung, aber die im Angesicht zukuenftiger Vernetzung versuchte Rettung der Staedte durch den Ausbau von Kulturinstitutionen wie Museen oder Theatern legt Zeugnis von einem Rueckzugsgefecht ab. Wenn die Menschen zeit- und raumungebundenen Zugriff auf die Datenbanken von Museen, Fernsehanstalten, Filmverleihern oder Film-, Musik- oder Videoarchiven haben werden, wenn immer mehr Kulturproduktionen bereits fuer die Netze hergestellt werden, dann wird sich darueber eine weitere Entropie der Zentren ergeben.

Metropolen sind oder vielmehr waren Zentren eines Landes, in denen das Gefuehl entstehen konnte, zugleich in der Mitte der Welt sich zu befinden. Staedte hatten fuer ihr Umland die Aufgabe der Vernetzung durch Verdichtung, sie waren Schaufenster, Orte der Repraesentation und des zirkulierenden Geldes: eine Funktion, die heute von der Öffentlichkeit der Medien uebernommen wird. Zumal wenn von der positiven Qualitaet der urbanen Lebensweise gesprochen wird, so ist die Rede vor allem von den oft noch historische Zuege tragenden Zentren und Kernen, deren Umfang allerdings verschwindend gering gegenueber der sogenannten Peripherie ist, die sich weit ins Umland hinein erstreckt. Die um den staedtischen Kern ausufernden Bereiche des umbauten Raumes zeichnen sich durch eben jene Langeweile und OEde aus, die mittlerweile Kleinstaedten und Doerfern fast ueberall zu eigen ist: es sind Nicht-Orte, die sich ueberall befinden koennten. Sie existieren lediglich deswegen, weil sie nahe an der Stadt sich befinden, weil es in und um Staedten bislang Arbeit und vieles andere in leicht und schnell erreichbarer Form gibt.

Um die Stadtkerne befinden sich Zonen, durch die man nur als Passagier, keineswegs als Flaneur, moeglichst schnell hindurcheilt, um bestimmten Taetigkeiten nachzugehen, neben Wohnen und Schlafen auch Einkaufen und Arbeiten, waehrend die staedtischen Kerne weitgehend nur noch vom inner- und ausserstaedtischen Tourismus, zu dem eben auch die Kultureinrichtungen gehoeren, belebt werden, die Unternehmen und reicheren Gesellschaftsschichten sich zurueckziehen, die Einkuenfte der kommunalen Haushalte sinken. Neben einigen spektakulaeren Bauwerken realisiert sich Architektur heute schon vorwiegend anderswo und meist unberuehrt von allen aesthetischen UEberlegungen. Der Architekturkritiker Martin Pawley schreibt:

"Starting in the 1980s, all over rural Europe, millions of square metres of warehouse and distribution center floorspace was constructed at breakneck speed. Outside old towns and cities, at thousands of exits on nearly 50000 kilometres of auto routes, one million new commercial complexes sprang up with no reference to urban context or the supremacy of art history at all ... This new 'abstract urbanism of the trade routes' ... has been ignored by architects and urban planners, historians and critics. Yet in economic terms it is already more important than the sum of all the 'art-historical' architecture built in our ancient towns and cities over the last half century. It has taken office space, warehousing, distribution and retailing out of the cities altogether."
Stadtpolitik heisst heute, nicht mehr die Zukunft zu planen, die anderswo stattfindet, sondern bestenfalls den urbanen Verfall aufzuhalten oder zu bremsen. AEhnlich wie Reservate, Naturschutzgebiete und kulturelle Institutionen muessen die Staedte kuenstlich durch Foerdermassnahmen von aussen aufrechterhalten werden: sie leben aus zweiter Hand, sind parasitaer.

Eben das verbindet Staedte mit den herkoemmlichen Kulturinstitutionen. Die zoegerlichen Umzugsplaene des politischen Zentrums von Bonn nach Berlin verdeutlichen, dass man nicht in die einstige Hauptstadt gehen will, weil dies aus irgendeinem Grunde notwendig waere, sondern einzig noch aus symbolischen Motiven, die man zudem mehr und mehr beschwoeren muss. Wo die Hauptstadt sich in einem Land befindet, wird immer gleichgueltiger und nebensaechlicher. Öffentlich findet Politik und politische Repraesentation fast nur noch in den Massenmedien statt, die gleichfalls ihrem Ende zugehen: Die Ära der Massengesellschaften ueberhaupt mit ihrem Bedarf an Zentren und standardisierten Massenprodukten und -informationen ist vorbei, wir gehen Gesellschaften entgegen, die in viele Mikrogesellschaften zerfallen, quer zu raeumlichen und nationalen Verankerungen, waehrend sich andererseits weiter globale, aber oertlich flexible und verstreute Machtstrukturen etablieren werden und muessen.

Neben vielen anderen Ursachen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ist, wie schon mehrfach angedeutet, fuer diese allmaehliche Veraenderung die Verbreitung der digitalen Informationsmedien und ihre Vernetzung durch Satelliten und Kabel wesentlich. Die Metapher des Take-over - der Machtuebernahme - ist der biologischen Spekulation entnommen. Von Graham Cairns-Smith wurde die Hypothese formuliert, dass das recht komplizierte biologische DNA-Leben sich zunaechst auf der Basis von einfachen, sich selbst reproduzierenden anorganischen Kristallen gebildet habe, wie man sie im Lehm findet. Cairns-Smith vermutet, dass die organischen Formen, bislang eher Werkzeuge der Kristalle, sich ploetzlich nach dem Auftritt einer ersten selbstreduplizierenden RNA schneller vermehrt haben koennten als die Kristalle und so langsam aus dem Status eines Parasiten, der auf eine Wirtszelle angewiesen ist, zu autonomen Wesen mutierten, die das kristalline "Leben" irgendwann hinter sich liessen. Ähnlich koennten Techniken durch "Machtuebernahme" die Angewiesenheit vieler Funktionen auf verdichtete urbane Raeume uebersteigen und einen davon unabhaengigen virtuellen Raum begruenden.

Die weitgehende Abloesung von den Bedingungen des realen Raumes ist jedenfalls die absehbare Drift der Telekommunikations- und Informationsmedien. Man wird weniger raeumlich an bestimmten Orten verankerte und raeumlich grosse Zentren brauchen, wenn man an vielen Orten zu jeder Zeit praesent sein kann, wenn die physische Anwesenheit in vielen Bereichen nicht mehr zwingend sein wird, wenn der virtuelle Raum den realen ueberlagert. Schon setzt eine neuartige AEra des Tele-Dialogs, des Tele-Shopping und der Tele-Heimarbeit ein, weil die digitalen Kommunikationsmittel den Zugriff auf sowie die Bearbeitung und Steuerung von Daten aus der Ferne erlauben. Verlagert sich die Arbeit zumindest teilweise in die Wohnung, so wird der Raumbedarf der einzelnen weiter steigen. Virtuelle Staedte mit allen Funktionen, die auf Distanz ausgefuehrt werden koennen, werden die realen Staedte mehr und mehr ueberlagern und vermutlich zu einer staerkere Adaption an Formen der Tele-Existenz fuehren. Kinder und Jugendliche wachsen nicht nur mit Telefon, Radio und Fernsehen, sondern auch mit Video- und Computerspielen auf.

Hier setzt sich der Trend zu MUDs, also zu vernetzten Datenbanken durch, auf die viele gleichzeitig Zugriff haben und in denen sie dann gemeinsam in einem virtuellen Raum spielen oder sich unterhalten koennen. Noch sind solche MUDs meist nur auf den Austausch von Worten oder auf recht einfache Handlungen wie beim interaktiven Fernsehen der Hamburger Gruppe Ponton beschraenkt. Die Übermittlung von immer komplexeren multimedialen Informationen in Echtzeit, Bedingung der noch erst versprochenen Piazza virtuale, wird aber bald moeglich sein, wenn Techniken der Datenkompression mit neuen Schnittstellen und den kuenftigen Datenautobahnen zusammengehen werden, deren wichtigste Eigenschaft in der wechselseitigen Vernetzung wie beim Telefon besteht. Das ist der Grund, warum wir uns von der Gesellschaft der Masse und der Massenmedien loesen, ein ebenso grosser und vielleicht aehnlich ambivalenter Sprung wie der von den Massentransportmitteln zum Individualverkehr.

Wichtig fuer die anstehende Veraenderung ist die neue Eigenschaft der vernetzten digitalen Medien, die Interaktion und Zwei-Weg-Kommunikation in Echtzeit erlauben. Die Menschen sind nicht mehr nur das passive Publikum der Endprodukte von Massenmedien und Massenfertigung, mit den interaktiven Medien koennen sie in die Angebote eingreifen und diese auf sich zuschneiden, sie werden nicht mehr nur Zuschauer sein oder vorhandene Informationen abrufen, sondern sie werden sich auch in einem virtuellen Raum mit audiovisuellen, taktilen und anderen Schnittstellen begegnen, dort miteinander in vielfaeltiger Weise kommunizieren und gemeinsam arbeiten oder mitunter selbst an entfernten Orten durch die Techniken der Telepraesenz und -motorik in die reale Welt eingreifen koennen.

Das Thema Cyber-Sex ist deshalb bereits in die oeffentliche Diskussion gerueckt, weil hier besonders deutlich wird, wie eine ueber vielfaeltige sensorische Simulation vermittelte Intimitaet auf Ferne nicht nur in die Lebensweisen eingreifen wuerde, sondern bereits auf bestehende Formen des Cocooning aufbaut. Noch allerdings sind die Formen der Tele-Existenz und des Tele-Sozialen in Echtzeit beschraenkt. Telefon, Radio, Fernsehen, Video-Conferencing und vernetzte Computersysteme geben uns erste Einblicke in jene Verhaltensweisen, die durch die paradoxe Naehe aus der Distanz charakterisiert sind, die dadurch entstehen, dass die Menschen sich an zwei Orten gleichzeitig befinden, dass in der Telekommunikation die persoenliche, durch den Koerper praesentierte Identitaet maskiert werden kann. Noch ist das weitgehend Zukunft, aber sie steht vor der Tuer und wird das soziale und urbane Leben grundlegend veraendern.

Fuer solche Verschiebungen in Richtung einer dezentralisierten Raeumlichkeit liessen sich denn auch Metaphern aus dem Bereich der Technik finden. Ein Chip scheint in der Vergroesserung das Modell einer geometrisch strukturierten Stadt zu sein, manchmal unterteilt in einige unterschiedliche "Stadtteile" und vor allem gekennzeichnet durch eine Vielzahl von - allerdings kantendisjunkten - Verbindungen zwischen den unzaehligen Komponenten, den Transistoren. Chips als Metaphern fuer urbane Raeume weisen auf die Notwendigkeit der Vernetzung und Verdichtung hin, denn kuerzere Wege bedeuten selbst in der Dimension von Nanometern und Lichtgeschwindigkeit eine Steigerung des Umlaufs. Diese Verdichtung wird sich mehr und mehr vom Raum abloesen und die urbane Verdichtung ersetzen, an der schliesslich nur noch jene gebunden sein werden, die keinen Zugang zu den Datennetzen besitzen. Gegenueber dem herkoemmlichen oeffentlichen Raum haben Datennetze den "Vorteil", dass jeder Schritt in ihnen prinzipiell ueberwacht und zu Geld umgesetzt werden kann. Solange es keine derart schnellen und interaktiven Telekommunikationsmoeglichkeiten gab, war die raeumliche Naehe und daher die Verdichtung eine schlichte Notwendigkeit, um Kommunikation zu intensivieren und aufrechtzuerhalten. Ineinandergreifende Handlungsvollzuege mussten raeumlich benachbart sein. Mit dem Telegraphen und dann vor allem dem Telefon, der ersten leicht zu handhabenden Zweiwegkommunikation, beginnt dieser Zwang zur raeumlichen Naehe aus Gruenden der Zeitersparnis zu schwinden und in die Technik der vernetzten Medien auszuwandern. Gleichzeitigkeit, zumindest nahezu, gilt nun prinzipiell fuer jeden Ort auf unserem Globus, denn auch dann, wenn man unterwegs ist, wird man ueber Funk erreichbar sein und Informationen austauschen koennen.

Ist der Chip eine Metapher fuer die Miniaturisierung des verdichteten Raumes, der sich durch Vernetzung gleichzeitig ueber den Globus erweitert, so stellt der UEbergang von den herkoemmlichen Rechnern zu massiv-parallen die Metapher fuer die Aufloesung von grossen Zentren dar. Der herkoemmliche Typ der Computerarchitektur zeichnet sich dadurch aus, dass Daten nacheinander in der zentralen Recheneinheit (CPU) abgearbeitet werden. Die CPU ist ein Mikroprozessor aus drei Komponenten: einem Steuerwerk, einem temporaeren Speicherregister und einem Rechenwerk (ALU). Die CPU ruft im Takt einer Quarzuhr Programmbefehle ab, decodiert und fuehrt sie aus, transportiert Daten auf elektronischen Verbindungswegen und fuehrt entsprechende Operationen durch. Weil der Datenbus aber immer nur einen einzelnen Byte oder eine Instruktion pro Takt in einer Richtung aehnlich wie bei einem Fliessband in der Massenfertigung transportieren kann, stoesst die Kommunikation zwischen CPU und Speicher auf Grenzen der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Schon der kleinste Fehler laesst das ganze System zusammenbrechen. Die zentrale Verarbeitung in der master-slave-Konfiguration bedeutet, dass immer nur ein Teil arbeitet. Diesem hierarchischen Flaschenhals sucht man durch die Entwicklung von parallelen Rechnern zu entgehen, in denen viele CPUs gleichzeitig nebeneinander arbeiten. Zentral ist nur noch ein Steuer- oder Netzwerk, das die Kommunikation oder Verbindung der Prozessoren koordiniert. Es ist gerade die Tendenz, Kommunikation zu beschleunigen, die ueber den urbanen Raum hinaustreibt, obgleich sie einst der Grund war, Staedte zu schaffen.

Die Stadt war immer der Ort, wo die politische, oekonomische, intellektuelle und kulturelle Macht angesiedelt und konzentriert war, die nach aussen, ins Umland ausgestrahlt hat. Es war der Ort, der mit anderen Zentren nicht nur durch Strassen, Wasser- oder Luftverbindungen vernetzt war, sondern in dem auch Menschen, Informationen, Ereignisse, Dinge und Waren von ausserhalb weitaus staerker zirkulierten oder praesent waren. Die Stadt, das war ein Ort der Verdichtung, an dem Heterogenes aufeinanderprallte, in dem nicht nur Arbeits-, Ausbildung- und Freizeitmoeglichkeiten sich ballten, sondern in dem auch Gruppen mit spezifischen Lebensstilen agierten und groessere Freiheit von sozialen Einbindungen aufgrund der Anonymitaet herrschte. Es war der Ort, in dem Minderheiten ihre Nischenkulturen ausbilden konnten, in dem etwa die Hochkultur entstehen konnte, auch aus dem einfachen Grund, weil hier einfach mehr Menschen waren. Die raeumliche Naehe verschiedenster Funktionen, die Dynamik der Konkurrenz und die damit einhergehende Verfuegbarkeit von vielen Angeboten, zeichnete die Stadt vor dem Eindringen der schnellen Telekommunikationsmittel aus, die wiederum nur den Prozess der Losloesung von raeumlichen Zwaengen durch die schnellen und individuell nutzbaren Transportmittel steigern.

Von MUDs als moeglichen Nachfolgern des oeffentlichen urbanen Raumes wurde bereits gesprochen. Der urbane Raum ist keineswegs einer der Gemeinschaft, sondern ein Ort der Begegnung mit wildfremden Menschen, eine Buehne, auf die man sieht und auf der man gesehen wird, auf der man gelegentlich freilich auch, wenn zuvor telefonisch oder anderweitig abgesprochen, Bekannte trifft. Ganz aehnlich ist dies in MUDs, nur dass die Geographie keine Rolle mehr spielt, man sich prinzipiell ueberall durch Kabel und Satelliten in deren virtuelle Welt einloggen und darin flanieren kann. Es ist der durchaus aus der herkoemmlichen Urbanitaet gewachsene Reiz, mit Fremden, deren Identitaet man moeglicherweise nie kennen wird, eine Gemeinschaft zu bilden, Freundschaften zu schliessen, zu diskutieren, Informationen auszutauschen oder gar zu flirten. Man zieht in die Welt der Medien ein, schafft Wohnungen und manchmal ganze Staedte mit eigenen Gesetzen und Lebensweisen in ihnen. Das funktioniert offenbar auch nur auf der schriftlichen Ebene.

Am MIT etwa wurde Cyberion City, ein Raumstation irgendwo im Weltall, also im utopischen Raum, gegruendet. Der virtuelle Raum ist nirgendwo, aber er wird kolonisiert und belebt. An jedem Tag, so berichtet WIRED, die Szenezeitschrift der Netzenthusiasten, reisen via Internet an die 500 Kids in diese Stadt, die sowohl in einer gemeinsam geteilten Imagination als auch im Speicher des Computers existiert. Bis jetzt haben sie mehr als 50000 Objekte, Charaktere und Raeume geschaffen - in denen man sich nur bewegt, indem man liest. Hier gibt es eine Rundfunkstation, ein Kino, ein Wissenschaftsmuseum, eine Art Disneyworld, eine Einkaufszone, einen Rundreisebus und sogar eine City Hall. Es gibt aber auch Wohngegenden und einen Roboter, der als Makler mit jedem in Verhandlungen tritt, der ein Haus erwerben moechte. Aber es gibt keine Karte von Cyberion City: "To explore is the thrill. Having no rule book is the teacher. You are expected to do what the kids do: Ask another kid."

Virtuelle Staedte, die nicht nur aus Worten, sondern auch aus Bildern bestehen, gibt es noch kaum. Doch wird man darauf nicht mehr allzulange lange warten muessen. Habitat in der amerikanischen Version oder Populopolis in der japanischen ist so ein MUD, in dem allerdings Grafik und Ton noch auf einer CD-ROM laufen, also noch nicht individuell gestaltbar, sondern vorgefertigt sind. Volker Grassmuck berichtete anlaesslich einer Konferenz in Muenchen ueber "Kuenstliche Spiele" von Populopulis, einer Stadt mit Wohngegenden, Stadtzentren, Parks, Waeldern und Dungeons, in die sich jeden Tag mehrere hundert Menschen begeben. Jeder Besucher erhaelt einen Koerper und kann sich dazu einen von 1000 Koepfen aussuchen, um sich irgendeine Identitaet fuer die anderen Besucher zu geben. Was man auf der Tastatur eintippt, erscheint in einer Sprechblase. Viel kann man zwar in dieser grafisch noch hoechst reduzierten Welt mit seinem ausgeliehenen Koerper nicht machen, aber man kann sich doch bewegen, einander zuwenden oder irgendwelche Objekte benutzen. "Es gibt", so Volker Grassmuck,"zwar auch hier Spiele im Spiel, z.B. einarmige Banditen, Schatzsuchen, Lotterien, Auffuehrungen, doch am meisten Vergnuegen bereiten Wirtschaft, Politik, Kultur ... Im Habitat entstehen spontan und spielerisch soziale Institutionen. In den sechs Wohnbezirken gibt es allerlei zu regeln. Vorsitzende sind gewaehlt und zuweilen bei einem Coup d'etat wieder gestuerzt worden. Polizei geht gegen Diebe vor, Unternehmen kommen auf. Z.B. fuehrt ein Reisebuero Neulinge in die umfangreiche virtuelle Welt ein ... Ausserdem gibt es Zeitungen, Haiku-Wettbewerbe und Kabuki, eine Habitat Universitaet."

Spiele, das hat die juengste Vergangenheit gelehrt, stellen eine breite Akzeptanz fuer die Menschen her, sich an die Computerwelten anzuschliessen und Kompetenz zu erwerben. Schon jetzt bewegen sich viele Menschen taeglich ueber Stunden in solchen Spielwelten, waehrend gleichzeitig die Datennetze exponentiell wachsen, immer mehr Menschen zu ihnen Zugang haben. Wenn solche virtuellen Staedte, die - on line - eine gemeinsame Praesenz im selben Datenraum ermoeglichen, weiter ausgebaut sind und vielfaeltige spielerische, aber auch ernsthafte und oekonomisch profitable Interaktionen erlauben, wenn die Menschen ihre Energien in den Aufbau und in das Leben in solche utopischen Raeume stecken, dann scheint dies zumindest eine steigende Gleichgültigkeit gegenüber dem realen Raum und der nächsten Umgebung und eine Faszination an der Tele-Existenz zum Ausdruck zu bringen. Urbane Lebensweisen werden nicht abgebrochen, sondern im Datennetz fortgesetzt.

Text: Florian Roetzer (c) 1995


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