Architektonische Metaphern begleiten die Mediengeschichte seit
ihren Anfängen, von der spätmittelalterlichen Neu-Erfindung
der camera obscura über das Pseudonym des Renaissance-
Buchgestalters Francesco Colonna bis zur Kritik des
photographischen, filmischen oder computergenerierten
Bildaufbaues. Umgekehrt haben frühere und jetzige Medien immer
auch besondere Formen der Architektur evoziert, deren
metaphorische Bedeutung dem Medium selbst diente: der Rundbau
des Panoramas und des Beobachtungsturms in Gefängnis oder
Irrenhaus; die Bühnenmaschinerien des Wagner'schen Opernhauses
und Gesamtkunstwerks sowie des Reinhardt'schen Totaltheaters;
als Inversion die Dunkelkammer, das Aufnahmestudio und der
Reinraum von Chip-Produktion und Intensiv-Medizin. (1) Die Metaphorik bewegt sich in beiden Richtungen auf denkbar begrenztem Areal; vorherrschend sind die Innenraum-Perspektive und das Baudetail. Hier lassen sich Größenordnungen am leichtesten verwischen, bleiben Angelpunkte dem Blick verborgen. Dies gilt auch für den vorläufig neuesten Bereich der Anwendung von Architekturmetaphern: Rechnerarchitekturen bleiben unsichtbar im Gehäuse verborgen und entpuppen sich nach Aufschrauben als fummelige Blechsteckspiele mittelmäßiger Passgenauigkeit. Sofern sich derselbe Begriff auf hierarchische Momente der Software-Entwicklung bezieht, verkommt er endgültig zur Beliebigkeit einer bedeutungslosen Generalmetapher. (2) Der metaphorische Zusammenhang von Architektur und Medien hat sich politisch in den verschiedenen Faschismen der dreißiger Jahre manifestiert, von Hitlers Baumeister-Beschwörung zu Speers Ruinentheorie, (3) in Mussolinis geisterhaft modernen Bauten (4) und in Francos gigantomanen Denkmälern. (5) Hier wird die Umkehrung der Werte angelegt, die heutige Strukturen kennzeichnet: die Architektur selbst existiert kaum länger als das Regime, ist oft genug allein als modellhafte Simulation vorhanden - für die die Realisierbarkeit ohne weiteres bezweifelbar bliebe - und dient allein zur Verschleierung von Wirklichkeit, als Erziehung zum Wegsehen und zur Indifferenz von Machbarem und Größenwahn. (6) Auch hier: metaphorisch dominiert das einzelne Werk, selbst im Zusammenhang neuer Großstrukturen. (7) Wenn die Einstürzenden Neubauten sich die ruinösen Reste des Nürnberger Parteitagsgeländes zur Spielstätte erküren, ist eine Verallgemeinerung in den Kontext von Gesellschaft und Politik nicht mehr möglich. Wer sich als moderner Architekt im nationalsozialistischen Staat nicht kompromittieren lassen wollte, ging nicht - wie es eine liebevoll gepflegte Fama der bundesdeutschen Nachkriegszeit wahrhaben wollte (8) - in den Industriebau, sondern er verschwand im Tiefbau. (9) Und als nach dem Krieg die Städte in Schutt und Asche lagen, da waren als einziges die unterirdischen Kanäle und Tunnels übriggeblieben. Sie haben den Wiederaufbau der deutschen Städte mehr beeinflußt als aller Planungswille, haben genau die Strukturen festgelegt, nach denen neue Straßenfluchten und Platzanlagen sich ordneten. (10) Das hatte mit Metaphern und Symbolen überhaupt nicht zu tun, prägte jedoch das Erscheinungsbild mitteleuropäischer Städte nach 1945 stärker als jeder Entscheidungswillen seitens der Planer und Politiker. Wo die Baufluchten unterirdischer Versorgungsleitungen wegen nur um wenige Meter versetzt werden konnten, waren keine grundsätzlichen Veränderungen der Stadtstruktur möglich. Die visuelle Eingriffe in das Bild einer Stadt hatten sich auf die Möblierung der Straßen (11) wie auf verkehrstechnische Leitsysteme zu beschränken. Lohn des Nicht-Nachdenken-Wollens war ein Rekurs auf das Organische, das als Commonsense unter Stadtplanern gleich das Nichtstun mitlegitimieren konnte. (12) Tiefbau-Metaphern haben - und das wissen wir nicht erst seit dem Dritten Mann aus Wien - immer etwas Geheimnisvolles, Unergründliches und vor allem Anrüchiges. Es scheint, daß die Vorbehalte aller Kulturkritik gegenüber informationellen Vernetzungen wie Telephonleitungen, Kabel-TV und nunmehr Daten(auto)bahnen sich aus jener Untergründigkeit speisen. Das mag zum einen mit dem entzogenen Blickkontakt zusammenhängen - haben die Bürger der USA vielleicht deshalb das bessere Verständnis von Demokratie, weil Strom- und Telephonkabel an Stangen über die Straße hängen? - und zum anderen mit fehlender Kenntnis der eigentlichen Fluß- und Verkehrswege, hier vor allem der Kreuzungen und Knotenpunkte. Dort ist tatsächlich der Vergleich von Städtebau und Datennetz anzusetzen. In den fünfziger Jahren hat Kevin Lynch mit einer Reihe von Soziologen das Verhalten von Menschen in us-amerikanischen Großstädten untersucht. Ihn interessierten vor allem die Beziehungen zwischen der individuellen Wahrnehmung und der öffentlichen Akzeptanz einer Stadt. Der Prozeß ist mit dem umgangssprachlichen Begriff vom Bild der Stadt nur unzureichend umschrieben. (13) Beispielsweise ist der Verkehrsfluß weitgehend von den Orientierungsmöglichkeiten der AutofahrerInnen an spezifischen Kreuzungen abhängig, wobei zum eigentlichen Finden von Wegen und Richtungen auch emotionale Momente treten. Erst ein ziemlich umfängliches Set von Beziehungen dieser Art legt fest, wie weit eine Stadt von ihren BewohnerInnen akzeptiert oder gar als lebens- und liebenswert empfunden wird.Die Umkehrung des Blicks lieferte Lynch's MIT-Kollege Richard Bolt am Ende der siebziger Jahre mit der Konzeption von Software-Tools, die sich die topographische Struktur des menschlichen Gedächtnisses zunutze machten. (14) Sein Spatial Data Management bot Steuerungsmechanismen für die Bewegung in anderseits unanschaulichen Datenbeständen, unter heftiger Benutzung von Blickrichtungs-Wechseln und diversen Joysticks. Die Bereiche möglicher Anwendungen waren dabei vielgestaltig: für den militärisch-industriellen Komplex entwickelt, im Archivwesen zunehmend zur Konzeption räumlich begehbarer VR-Datenbanken genutzt, hat Jeffrey Shaw diesem Verfahren 1984 mit seiner Installation The Narrative Landscape ein künstlerisches Denkmal gesetzt. (15) Seither hat die urbanistische Metapher vom Fahren in Datenbeständen eine kommunikative Grundlage. Die Bereitstellung räumlicher Orientierungsmöglichkeiten jenseits der graphischen Bildschirm-Oberflächen tut not; die Komplexität selbst konventioneller Standard-Software geht über die Leistungsfähigkeit flächiger Modelle weit hinaus. Das zeigen schon die Eröffnungssequenzen kommerzieller Spiele und Musik-Animationen; doch führen auch sie entweder nur Innenraumperspektiven vor oder rekurrieren gleich auf einen quasi-unendlichen, kosmisch begrenzten Raum. Die städtische Orientierung ist nicht oder nur selten gegeben, und wenn, dann als textuelle, verschriftlichte Struktur - wie dieser Artikel. (16) Da die Computerindustrie und in ihr die Software- Produktion als derzeit avancierteste Branche technischer Entwicklung seismographisch auf emotionale und wahrnehmungsspezifische Grundvorstellungen reagiert, muß dieser Verlust des Urbanen mehr mit den derzeit existierenden Städten zu tun haben als mit den Wahrnehmungsformen des menschlichen Gedächtnisses. Lange genug ist das Ausfransen der Städte an ihren Rändern, die Verödung rechteckig geplanter Vororte beklagt worden, (17) bis der Sprawl als städtebauliche Kategorie eigener Art anerkannt wurde. (18) Inzwischen gehen Planer bereits dazu über, den randständigen Wucherungszonen positive Effekte für die städtebauliche Gesamtplanung zuzuschreiben. (19) Abgesehen von der konservierenden Rolle, die diese Gebiete für hierarchisch-historisch gegliederte Stadtkerne spielen können, wird jedoch gerade das ungeplante Ausufern, das jeder Hierarchie geradezu spottende Nebeneinandersetzen baulicher Einzelstücke zum eigentlichen Strukturmoment. Hier wird eine Kategorie in exakter Umkehrung klassischer Metaphorik bedeutend: die Zeit. Gebäude haben heute kurze Abschreibungs- und damit Halbwertzeiten: ein durchschnittliches Bürohochhaus in Hongkong muß binnen acht Jahren amortisiert sein, in Städten wie Frankfurt oder New York dauert dieser ökonomische Prozeß etwa doppelt so lang. (20) Ein normales Einfamilienhaus hat zur Zeit eine durchschnittliche Lebensdauer von rund siebzig Jahren; es macht also keinen Sinn, längere Finanzierungspläne als 35 Jahre dafür vorzubereiten - die Tendenz beider Laufzeiten zeigt deutlich auf Verkürzung. Damit ist einem Tertium Comparationis aller architektonischen Metaphorik endgültig der Boden entzogen: die Dauerhaftigkeit, aus der allein die Mutterrolle aller anderen Künste ableitbar war. Vordringlich ist Architektur Gegenstand der Betrachtung geworden und nicht mehr des Durchschreitens und im ursprünglichen Sinne Aufnehmens. (21) Unter zeitlichen Vorzeichen schwindet zudem die Kraft des Genius Loci als Basis kreativer Autonomie; (22) postmoderne Regionalismen und Code- Cluster sind ubiqitären (De)Konstruktivismen hoher Komplexität gewichen, die ihrerseits jede Bindung an hierarchische Gliederungen ablehnen. (23) Wo die Zeit an der architektonischen Metaphorik über-individueller Existenz nagt, wo kein Architekt mehr auf die historische Macht des von ihm verbauten Geldes vertrauen kann, da werden gleich eine Reihe von Maßstäben obsolet und verschieben sich die Proportionen zugunsten einer Gleichwertigkeit aller, selbst minimaler Entäusserungen. (24) Die Verunsicherung ist groß unter den Architekten, was nicht nur Spiegelbild globaler Verhältnisse ist, sondern spezifische Umwertung der Begrifflichkeit von der Macht der Gestaltung. Wenn ein Architekt wie Gottfried Böhm, der eine Reihe bundesdeutscher Städte mit gigantischen Beton- und Steinzentren blockiert hat, am Ende seines Lebens eine winzige Kapelle als Summe seines Werks darstellt, dann ist das mehr als nur Koketterie - es ist das Ende eines Selbstverständnisses vom Bauen. (25) Erst einmal ist das gut so. Die Arroganz der Macht, die Versuchung des Übermenschen zur Setzung generationsübergreifender Schemata ist weg. Die Besinnung auf die Hütte im Zeitalter eines nomadenhaften Daseins hat jenseits aller Romantik auch einen, den Industrienationen wohl anstehenden Ruf nach Bescheidenheit - realisiert wird er ohnehin nur zögerlich. Und obendrein läßt er sich als Schlagwort der Neuen Einfachheit schnell zum nächsten Modethema der Saison ummünzen. Darum soll es hier nicht gehen. Erst einmal geht es um die Zerlegung oder Abschaffung einer metaphorischen Ebene, die Architektur als Bild begriffen hat - und noch immer begreift - und daraus genau jene Schieflage mehrfacher Codierungen produzierte, die vom eigentlichen Sinn des Bauens wegführte. Wo Fassadenbilder ebenso unzureichend den Stand der Dinge beschreiben wie Rechnerarchitekturen, mag ein direkter Rekurs auf die Technik jenseits aller Metaphorik ertragreicher sein. Da ist zunächst eine funktionale Ebene: wenn ein mittelgroßes Architekturbüro mit doppeltem Wohnsitz seine Daten austauscht, so ersetzt das noch nicht die persönliche Anwesenheit des Architekten an einem oder dem anderen Ort, hilft aber doch über viele Probleme hinweg. (26) Wenn neuere und vor allem ökologische Baukonstruktionen und Haustechniken geplant werden müssen, dann sind Datennetze, vor allem die weltweiten Anbietersysteme unverzichtbar - es war immerhin der Whole Earth Catalogue, der als eines der ersten Bestellsysteme im Netz landete. Die Konstitution neuester Baumaterialien ergibt sich prinzipiell aus den jeweiligen Aufträgen, was automatisch zur Integration von umfangreichen Computersimulationen in jeden Planungsprozeß führt. Die Umkehrung der Service-Leistung führt direkt in den Vergleich von Datennetz und Städtebau oder Verkehrsplanung. Hier haben Leitsysteme, Farbpaletten und Knotenpunkt- Konstruktionen bereits eine so lange Tradition, daß man ihre Übernahme in die Planung von Datennetzen und Informations- Autobahnen nur wünschen kann. Gerade die Fehler, die in den sechziger und siebziger Jahren bei Großplanungen von Neubauten wie Universitäten und Kliniken oder bei fundamentalen Veränderungen mancher Innenstädte gemacht worden sind, könnten als lehrreiche Erfahrungen in die Konzeption von Datennetzen als virtuell urbane Kontexte einfließen. Dazu gehört der Verlust an Orientierung oberhalb kritischer Größen: vom täglichen Verlaufen zur hohen Selbstmordrate ist es in riesigen Campus-Universitäten wie etwa Bochum oder Essen nicht weit. Desorientierung im Netz dürfte vorläufig noch nicht zu derartig körperlichem Mißbehagen führen, doch hat eine solche Analogie psychologisch dieselbe Basis. Die mühsame Kaschierung allgemeiner Desorientierung durch Farbleitsysteme ist in den Großbauten ähnlich halbherzig gelöst worden wie in den Spreadsheets der Datendienste. Was die Kennzeichnung von Stockwerken und Dienstleistungen durch kaum nachvollziehbare Farbskalen auf Rohbetonflächen in der Architektur ist, demonstriert sich im Ikonen-Raten und Klick-Button- Suchen auf dem Bildschirm. Wenn schon weder ausgebildete Designer noch ebensolche Kunstwissenschaftler zur Dechriffrierung dieser Hilfsangebote fähig sind, bleibt nur die Nachfrage bei ganz unbekümmert kindlichen Nutzern übrig. Die trauen sich bei Fehlleistungen auch ungeniert zum Ausgang zurück. Derartige Beispiele sind zuhauf möglich, sie führen zur grundsätzlichen Problematik der Analogie von Stadtbild und Datennetz zurück. Hier sind bereits Instrumente des Übergangs von der einen Struktur zur anderen vorhanden, aus denen sich Zukünftige Entwicklungen ablesen lassen - allerdings ohne den Erfolg der jeweiligen Ansätze vorwegnehmen zu können. Die herrschende Politik setzt eindeutig auf schlichte Verdoppelung: nicht nur Berlin, sondern alle großen Städte Deutschlands sollen in Landkarten und 3D-Modellen generiert werden, damit über zukünftige Planungen im Simulationsstadium entschieden werden kann. Das Projekt ist gigantisch und absehbar nutzlos. Es setzt auf die abgelaufene Metapher von der Architektur als Bild, geht - außer bei ein wenig oberflächlicher Maßstäblichkeit - an den ökologisch wie ökonomisch sinnvollen Funktionen neuerer Architekturplanung weitgehend vorbei und wird allein ein paar staatsnahe CAD- Büros für einige Jahre finanzieren. Und wer Stacey Spiegels Crossings bespielt hat, wird zwar beeindruckt gewesen sein, zugleich aber auch bedrückt ob der geringen Einflußmöglichkeiten, die ihm in diesem Gemeinschaftsprojekt gegeben sind. (27) Selbst wenn die Maßstäbe nicht gar so aus den Fugen geraten sind wie bei der deutschen Hauptstadt oder der kanadischen Provinz, sind die Verdoppelungen realer Städte durch virtuelle Ambientes doch meist bloße Spielereien, Zeitvertreib. New Amsterdam ist eben genauso freakig wie das Vorbild, nur regnet es nicht so oft. (28) Und wenn einer der Netzanbieter sich als virtueller Architekt bezeichnet, hat es mehr kokette Züge denn inhaltliche Komponenten. Das virtuelle Neu-Amsterdam - schließlich hieß New York einst auch so - trägt schwer an seinem didaktischen, weltverbessernden Charakter. Doch schließt es im Wesen der Verdoppelung einer existierenden und als Folie körperlicher Bewegung notwendig erhaltenen Stadt durch die extensive Verwendung der Untergrund- Metapher seitens der Macher eine weitere Verdoppelung ein: Subkultur ist selbst ein Begriff zum Fürchten für alle die gewesen, denen eine vertikale Tradition kultureller Aktivitäten selbstverständlich war. Rein technisch gesehen kann New Amsterdam jedoch keine Subkultur im Netz sein, ohne den urbanen Anspruch auf zufälliges Vorbeikommen - wie er in der bildenden Kunst schon lang formuliert ist (29) - aufgeben zu müssen. Und im Untergrund, dem städtischen wie dem (sub)kulturellen, ist spontaner Einstieg aus gutem Grund rar. Ein umgekehrter Weg zwischen Stadt und Netz mag ebenso großtechnisch anmuten, hat aber mikromediale Qualitäten und erscheint deshalb zunächst menschlicher. Nicholas Negroponte hat schon vor knapp zehn Jahren darauf verwiesen, daß das zukünftige Fernsehgerät keine Bilder empfangen wird, sondern Daten, die selbst zu Bildern sich formen lassen. (30) Einen Schritt in diese Richtung geht zweifellos die von Ford Oxaal entwickelte Software Mind's Eye View, die aus jedem gegebenen Überblicksbild Kamerablicke und -fahrten in jeder gewünschten Perspektive errechnen kann; spezielle Fähigkeiten hat das Verfahren insbesondere bei der Erschließung von Fish-Eye- Aufnahmen mit 360 horizontalem und 180 vertikalem Bildwinkel. (31) Sie enthält telekommunikative Aspekte von einiger Tragweite - wann immer sie einmal in die Praxis umsetzbar sein werden. Passende Hardware vorausgesetzt, sollte sie in Echtzeit jeden Ausschnitt und jede perspektivische Korrektur aus einem gegebenen Fisheye-Bild ermöglichen, gleich ob aus einer eingescannten Standbild-Vorlage oder aus einem live eingespielten Video-Kamera-Take. Dabei sind sämtliche Arten der Ver- und Entzerrung kurvenlinearer Bilder möglich, auch als Zoomen und Pseudo-Fahrt durch Bildausschnitte. Prinzipiell ist dazu die stereoskopische Variante von Fish-Eye- Aufnahme und -Bearbeitung denkbar; sie ermöglicht dann auch jeden Wechsel des Betrachterstandpunkts samt folgender Perspektivkorrektur im gegebenen Bild. Dies als telekommunikative Grundausstattung eines jeden Heimfernsehers gedacht, ermöglicht Formen der Interaktivität, die nah an literarische Repertoires der Science Fiction reichen. Beispielsweise könnte über die Mitte eines Fußballstadions eine Fisheye-Kamera gehängt werden, und jeder Bildschirmnutzer sucht sich seinen Ausschnitt des Bildes während der Live- Übertragung des Spiels selbst - oder plaziert sich ein Set vorbereiteter Ausschnitte eigener Wahl auf dem Bildschirm. Noch ein wenig weiter gedacht: an allen wichtigen Punkten der Welt, etwa in Parlamenten oder auf großen Plätzen historischer Ereignisse, hingen kleine Fisheye-Kamera-Einheiten mit Fernsehsendern, und die Bilder gegebener Nachrichten könnten von den Betrachtern selbst ausgeschnitten werden, in des Wortes fundamentaler Bedeutung. Das Verhältnis von Kamera zu Bildschirm wäre umgedreht: jeder Fernseher ist sein eigener Bildregisseur. Ganz nebenbei würde das Verfahren die Astronomie erheblich befördern: die minuten- und stundenlange Übertragung von Funksignalen an Kameras auf irgendwelchen Satelliten zur Steuerung des Blickwinkels entfiele; die Kameras sendeten einfach ihren Overall View, und die Ingenieure auf der Erde entnähmen diesem die wichtigsten Informationen. (32) Schöne neue Welt, schönes neues Weltall - Orwell and Huxley revisited. Netze sind urbanistische Utopien: Datennetze nicht ausgeschlossen. Städte wie Palmanova, Festungsbauten wie die Zitadelle von Jülich oder Duerers Idealplan basieren auf der Selbstähnlichkeit geometrischer Elemente in Superimpositionen, auf der Emergenz formaler Komplexität aus einfachsten Grundmitteln. Werden sie durchwandert - wo es nach Weltkriegen und Konsumbauwut noch möglich ist -, so stellen sich schnell surreale Blicke ein, gehen Maßstäbe und Proportionen verloren. Dennoch bleibt meist ein Rest im Konstrukt: Karlsruhe wie Mannheim - und mit ihnen Dutzende von Barockstädten - haben mehr als zweihundert Jahre nach ihrer Gründung noch keine Stadtzentren, deren Struktur als gewachsen oder vielgestaltig erlebt wird. Die Elemente des Urbanen sind hier allzu gleichmäßig verteilt, haben wie im Sprawl der umgebenden Landschaft keine distinktiven Eigenschaften mehr, das Resultat ist gepflegte Langeweile im fließenden Verkehr. Fehlt zudem, wie in allen genannten Beispielen, eine topographische Höhendifferenzierung, so sind Verluste der Orientierung und damit der Identifikation von Teilnehmern an Urbanität und Netz nicht auszuschließen. Keinesfalls sollte mit diesem Argument einer metaphorischen Ebene des Städtischen das Wort geredet werden, die im deutschen Nationalsozialismus wie im europäischen Faschismus zu einem idyllischen Regionalismus geführt hat, (33) der als rechtskonservative Neuauslegung der Moderne bereits wieder diskutabel geworden ist. (34) Es geht im Vergleich städtischer Formen zur Programmierung von Datennetzen nicht um die Schaffung bildhafter Blickwinkel, die ohnehin nur dem Erleben des Einzelnen vorbehalten bleiben können, sondern um die Wahrnehmungsschwelle in Bewegung, Orientierung und Lokalisierung, die eine Teilnahme am urbanen oder vernetzten Leben erst ermöglichen. Vertikal gesehen, bewegen wir uns exakt auf Straßenniveau, idealiter auf Normal/Null. Nicht umsonst war den radikalen Sozialisten unter den Städtebauern der Moderne die alpine Architektur eine heißgeliebte Briefmetapher. (35) Ein Konstituens urbanen Lebens ist die Erkenntnis vieler gleichzeitiger, unabhängiger und sich gelegentlich kreuzenden Bewegungen auf Straßenniveau. Die Fixierung des Wissens von diesen Bewegungen ist durch Sehnsuchtsmuster geregelt, soweit es eben geht. Nicht erwünscht sind vor allem jene Bewegungskreuzungen, die in der deutschen Sprache als Unfall und in der englischen als accident sich realisieren. Die Entdeckung dieser urbanen Zeitdimension war abhängig von technischen Erfindungen, ganz wie es zunächst Walter Benjamin und nach ihm Paul Virilio dargestellt hat. (36) Dabei ist für die Medien der Registrierung jener Zeitdimension eine merkwürdige Verzögerung festzustellen: es hat nahezu fünfzig Jahre gedauert, bis die Photographie in der Lage war, divers-diskrete Bewegungen mittlerer Geschwindigkeit in einem Bild festzuhalten - eben nicht in den Experimenten von Anschuetz, Marey, Muybridge und anderen, sondern in der durchschnittlichen, oft genug anonym produzierten Stadtphotographie. (37) Gleichzeitig aber war der Autotypie-Rasterdruck eingeführt worden und damit der Weg zum Bildjournalismus geöffnet. (38) Die Darstellung städtischer Bewegung schien dennoch für mindestens ein Jahrzehnt lang so neu, so unübersichtlich, daß sie nur unter einem Blickwinkel verwendet wird, der Schrägsicht von mittlerer Höhe, Kavaliersperspektive genannt. Es ist dieselbe Sicht, die der Eröffnungsbildschirm der bekanntesten Stadtsimulation als Spiel bietet, SIMCITY. Dort ist sie allerdings dem militärischen Ursprung jener Perspektive abgeleitet worden; Will Wright hat seinen urbanistischen Zeitraffer aus einer Bombardierungs- Flugsimulation entwickelt. (39) Blickwechsel, wie sie der Film in den zwanziger Jahren für die städtische Sicht erfunden hat, sind für die Analogie von Netz und Stadt nicht bedeutend. Allzu unanschaulich sind die vernetzten Daten, allzu sehr beruhen sie auf dem Primat des Textes und der Zahl, allzu wenig evozieren sie räumliche Interessen. Die flächige Gestaltung von Benutzeroberflächen folgt ergonomischen Mustern militärischen Ursprungs, die sich an primitivsten Orientierungsschemata ausrichten und auf jede Differenziertheit in der Anschaulichkeit verzichten - Norton's Commander entspricht einem Radarschirm der frühen sechziger Jahre. Die nächtliche Wirkung dieses Ambientes - ikonologischer Typus: einsamer Beobachter auf Control Tower XYZ - ist durch die Macintosh- und Windows-Oberflächen am Beginn der achtziger Jahre endgültig verdrängt worden. Pop Up- und Pull Down-Menues sind einer leicht reliefierten Anordnung farbiger Schaltknöpfe gewichen, die, mit Sprechblasen der Erläuterung garniert, jeden Befehl als Meisselhieb eines Grabsteinmetzes im polierten Granit erscheinen lassen. Das räumliche Sehen reduziert sich hier auf eine Zweipunkt- Perspektive, deren Stadtuntauglichkeit Johann Stöffler mit seinem Schattenquadrat schon 1513 nachgewiesen hat. (40) Das städtische Modell des Netzes kennt an der Oberfläche kaum eine Perspektive, dazu so gut wie keine Uhrzeit, also auch keine Tages- oder Nachtzeit. De facto ist im Netz immer Tag. Dreidimensionale Renderings städtischer Ambientes im Netz strahlen in gleichmäßiger Diffusion, als ob sie den Fallout eines explodierten Kernkraftwerks aufgenommen hätten, (41) oder ihnen sind Spitzlichter des späten Nachmittagslichts aufgesetzt, das bei passender Verflachung der Schlagschatten für eine Romantik italienischer Landschaftssichten der Deutschrömer sorgt. (42) Wo die Nacht Konstituens urbanen Lebens ist - von Dichtung über Malerei bis zum 'blinden', da den Sehsinn nicht stimulierenden Rundfunk (43) -, herrscht im künstlichen Dauertag eine klinische Reinheit wie vielleicht noch bei der Chip- Herstellung selbst. Im Netz geht die Sonne nicht unter. Es ist aber eine künstliche Sonne, mit gleichmäßiger Bestrahlung aller Teilnehmer, eher dem Modell des Solariums zuzurechnen. Wer sich ins Netz einklinkt, Daten und Nachrichten tauscht, interaktiv spielt oder Bankgeschäften nachgeht - wobei sich immer fragt, wer das Modell für den anderen abgibt -, dem sind schnell Zeit und Raum egal. Hauptsache, die Ströme fließen. (Die Stadt des Spiels) SIMCITY wird in den vorgegebenen Modellen mit Wasser durch künstliche oder natürliche Seen, lange Leitungen und grundwasserbohrende Wasserwerke versorgt. Als Analogon zum Datenfluß in Netzen und Leitungen ist das Spiel näher an der Realität als die deutsche Sprache: der stille Speicher bleibt am Bildrand und wird mit Hilfe von Pumpen und Röhren angezapft. Das Gefälle, das die Fließrichtung bestimmt, ist künstlich erzeugt und hochgradig kostenintensiv - Investionen, die sich lohnen müssen. CompuServe, Internet und all die anderen arbeiten auch nicht anders. Verblüffend ist zudem die Analogie bezüglich ihrer Realitätsnähe im Umsatz des Wassers oder der Daten: kaum wächst die Stadt, kaum nimmt die Zahl der Abnehmer zu, werden die Rohre zu klein, die Anschluesse zu verzweigt, die Kosten zu hoch. Solange in Spiel und Wirklichkeit gleichermassen die Kosten für die Bereitstellung und den Unterhalt von Leitungen auf die ganze Gesellschaft umgelegt werden, verdienen die Betreiber von Wasserwerken und Datendiensten durchwegs an der Mangelsituation doppelt. Sie profitieren von den langen Wartezeiten an den Knotenpunkten, indem sie zeitgebundene Mietkosten für geringe Durchsatzmengen berechnen, und sie können die Grundpreise für angebotene Leistungen höher ansetzen, da sich in der Leitung selbst keine Konkurrenz breitmachen kann. Gemeinsame Grundlage von Städtebau und Datennetz ist die Ökonomie - der Markt als Ort vor der Metapher. Doch nie hat es in Städten nur einen Markt gegeben. Die Fischhändler hatten einen anderen Platz als die Pelzverkäufer, die Gewürzkrämer standen näher am Zentrum als die Färber. Mit den Marktplätzen war eine soziale Rangordnung verbunden, die durch die Belastung des Geruchssinns festgelegt wurde. Deutlich sichtbar wird derzeit, wie sich ähnliche Rangordnungen in den Datennetzen fixieren. Die Organisation von Marktstrukturen auf der Basis von Angebotsgruppen steht in deutlichem Gegensatz zur Annahme einer ubiquitären Vereinheitlichung aller Teilnahmen im Netz. Therapeutische, soziale und ökologische Selbsthilfe- oder Aktionsgruppen können zwar keine grundsätzlichen Strukturveränderungen im Netz herbeiführen, aber das war im städtischen Kontext auch nie möglich. Räumliche Verdichtungen und soziale Gentrifications, wie sie sich in allen Großstädten der Welt nachweisen lassen, (44) finden sich im Netz als Cluster von Angeboten und Shift des graphischen Erscheinungsbildes wieder. Die Schwellen der Überschreitung topographischer Grenzen werden im Datennetz sicher kleiner als in der Stadt, doch hat sich binnen kurzem auch hier eine Verschiebung der Märkte und Quartiere vom Zentrum weg oder zu ihm hin ereignet. Nicht erst seit Howard Rheingolds euphorischen Bemerkungen über die Konstitution kleiner Betroffenheitsgruppen im nächtlichen Netzwirken (45) sind gesellschaftliche, vor allem von ökonomischen Interessen geregelte Hierarchien entstanden, die dem Leben in der Stadt analog setzbar sind. Im Gegensatz zu Martin Pawley (46) gehe ich davon aus, dass diese Ökonomien unterscheidbar genug bleiben, um über einen längeren Zeitraum hinweg die Bildung deutlicher Strukturmomente im Netz zu garantieren - etwas, das selbst im Sprawl der großflächigen Wohnbesiedlung gegeben ist, indem der Baumbestand oder andere vegetative Momente sich allen vereinheitlichenden Tendenzen langfristig erfolgreich widersetzen. Nicht umsonst ist das Zuwachsen von Fassaden für Architekten ein metaphorisches Desaster. Von der Ausgrenzung des Geruchssinns aus dem urbanen Kontext ist es ein kurzer Weg zur Geschichte der Ausgliederung des Erotischen aus der bürgerlichen Kommunikation. Das ist im Städtebau nicht anders als im Netz. Jahrzehntelang wurden Rotlichtviertel aus den Stadtzentren immer weiter herausgeschoben, um nun als Container- und Campmobil-Bordell- Siedlungen am Stadtrand ein mehr als trauriges Dasein zu führen. Doch trotz oder gerade wegen Aids ist urbanes Leben ohne eine Topographie des Begehrens gar nicht möglich. In den Medien war das nie anders: die frühen Videotheken machten wie die heutigen CD-ROM-Versender den weitaus größten Teil des Umsatzes mit Schmuddelware - alles schon einmal dagewesen, denn die Umsätze der Buchhändler im mittleren 19. Jahrhundert an photographischen 'Akademien' waren ebenso kräftig wie die Pornofilm-Produktion in Paris und Wien während der zwanziger Jahre. Konservative US-Zeitschriften warnen Eltern nicht nur allgemein vor dem allzu frühen Zugriff aufs Netz, sondern besonders vor dem anrüchigen Internet im Gegensatz zu 'sauberen' und wesentlich kommerzielleren Anbietern auf dem World Wide Web. (47) Daß sich in diesem und anderen Netzen allerdings tausende von rassistischen Anbietern tummeln, wird dort nur am Rande erwähnt. Auch Sekten und allerlei oskuren Organisationen haben sich schon frueh in den Sprawl der Netzbesiedlung begeben, sitzen an vielen wichtigen Knotenpunkten und schaffen es mit immer neuen Decknamen, Abnehmer in ihre Fallen zu locken. Wo früher die Schlepper und Bauernfänger lockten, wo Haussammler und Drückerkolonnen ihre dubiosen Geschäfte machten, warten kleine und grosse Geldabgreifer hinter harmlosen Deckblättern auf die Netzfahrer ohne Erfahrung. Schmutz ist ein fundamentaler Bestandteil urbanen Lebens, ob als abgekippte Jauche in Mittelalter und früher Neuzeit, als Pferdekot der New Yorker Strassenbahn um 1900 oder als brauner Polit-Rest im Netz. Jeder Versuch, sinnliche Erweiterungen wie politische Verdreckungen aus dem Netzraum fernzuhalten, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Hier ist die Analogie von Netz und Stadt - im sozialpsychologischen wie psychopathogenen Kontext - von unübertroffener Exaktheit. Wer immer auf der Metaphorik architektonischer und vor allem urbaner Elemente im Netz bestehen will, muss sich vergegenwärtigen, dass sie dort am besten funktioniert, wo einem administrativen Planungswillen das Chaos des täglichen Überlebens und der verbotenen Gelüste haushoch überlegen ist. Das wohl rührendste Bild der Beziehungen zwischen Architektur, Städtebau, Datenfluß, Maschine und Mensch bietet eine Sequenz im erwähnten Spiel SIMCITY: unter den im Spielverlauf möglichen Katastrophen ist als riot ein winziges Häufchen marschierender Menschlein mit Transparenten und Plakaten zu sehen. Diese Demonstration bewegt sich sanft um die Straßenecken des Bürgermeisteramtes und der Energiezentrale, offensichtlich ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Wieso diese niedlichen Mikroben für den vorzeitigen Rücktritt eines Bürgermeisters oder für grössere Flurschäden verantwortlich gemacht werden können, ist nur schwer einzusehen. Und doch stehen sie im Katalog des Katastrophen-Unterprogramms gleichwertig neben Vulkanausbrüchen, Erdbeben und der Landung extraterrestrischer Truppen. Es muß an der menschlichen Macht etwas sein, das sich nicht in Computersimulationen abbilden lässt. Dort endet wohl der Vergleich zwischen Städten und Netzen. Anmerkungen
1 Vgl. Ausst.Kat. Timm Rautert, Gehäuse des Unsichtbaren,
Essen Heidelberg 1992. |